Können Maschinen wirklich denken? Täglich lesen wir Schlagzeilen über neue KI-Wunder: Computer bestehen schwierige Prüfungen, schreiben Texte, malen Bilder. Schnell entsteht der Eindruck, dass Maschinen uns bald überholen. Doch die Realität ist nüchterner. Zwischen dem, was in der Theorie möglich scheint, und der Realität der heutigen KI-Systeme klafft jedoch eine Lücke. Um KI sinnvoll einzusetzen, sollten Entscheider:innen verstehen, wie KI tickt – und was Maschinen nicht können.

Tatsache ist: Die allermeisten KI-Anwendungen heute sind spezialisierte Experten für eng umrissene Aufgaben. Ein Sprachassistent kann z. B. Termine koordinieren, ein Bildklassifizierungs-Algorithmus erkennt Krebszellen besser als ein Mensch – aber jeder bleibt strikt in seinem Aufgabenbereich. Außerhalb dessen versagen diese Systeme. Sie verfügen nicht über ein allgemeines Weltverständnis, sondern verarbeiten nur Daten nach mathematischen Mustern.

Exponentielle Entwicklung vs. menschliche Intuition

Ein Blick in die IT-Geschichte zeigt, wie rasant sich Technologie entfalten kann. Gordon Moore formulierte schon 1965 das nach ihm benannte Gesetz: Die Rechenleistung verdoppelt sich alle circa zwei Jahre. Ähnlich verhält es sich mit KI: Die Entwicklung von IT-Systemen und KI verläuft exponentiell, nicht linear – das überfordert unser intuitives Verständnis, erklärt aber die sprunghaften Fortschritte. (KI jetzt!, S. 35) In wenigen Jahren sprang KI von einfachen Bilderkennungs-Tools zu erstaunlichen Sprachmodellen wie GPT-4. Doch während sich die Technik in immer kürzeren Zyklen verbessert, bleiben viele Unternehmen und Menschen mental im linearen Denken verhaftet.

Exponentielles Wachstum bedeutet anfangs langsamer Zuwachs, dann plötzlich explosive Entwicklungen. Genau das erleben wir: Jahrzehntelang fristete KI ein Nischendasein, doch seit einigen Jahren scheint es, als kämen täglich neue Durchbrüche. Tatsächlich erscheinen inzwischen täglich Hunderte neue KI-Tools, von denen viele produktive Arbeitsschritte ausführen können, die zuvor nur Menschen erledigen konnten. Diese Flut an Innovationen kann schwindelig machen. Dennoch heißt es: Ruhe bewahren und realistisch bleiben.

Kurzfristiger Hype: überschätzte Wirkung heute

Wenn eine neue Technologie ins Rampenlicht tritt, neigen wir zu übersteigerten Erwartungen. „Die Mehrheit der Menschen überschätzt die kurzfristigen KI-Auswirkungen“ (KI jetzt!, S. 13). Das haben wir in vergangenen Tech-Hypes schon gesehen – man denke an das Internet um die Jahrtausendwende oder Smartphones um 2007. Im Fall der KI glauben manche, in ein bis zwei Jahren würden ganze Berufsfelder wegrationalisiert und jeder Haushalt hätte einen eigenen Roboterassistenten. Die Realität hinkt solchen Visionen meist hinterher.

Auch im Unternehmenskontext zeigt sich Ernüchterung: Viele Firmen haben 2023/24 erste Pilotprojekte mit generativer KI (etwa Chatbots oder Textgeneratoren) gestartet – oft mit überzogenen Erwartungen. Umfragen zufolge stecken zwei Drittel der Unternehmen in der Experimentierphase fest und schaffen es nicht, die KI-Lösungen produktiv zu skalieren[1]. Gartner prognostiziert, dass bis 2025 etwa 50 % der generativen KI-Projekte in Unternehmen scheitern oder abgebrochen werden[2]. Die Gründe: unerwartete technische Hürden, Datenschutzbedenken und ein ROI, der doch nicht so schnell kommt wie erhofft. Kurzfristig wurde schlicht zu viel versprochen.

Ein Beispiel aus der KI-Welt: OpenAI sorgte 2024 mit Sora – einem KI-Modell zur Videoerzeugung – für Aufsehen. Doch nachdem die erste Euphorie verflogen war, zeigten sich die Grenzen: Viele User bemängelten die Bildqualität und die In-Session Stabilität der generierten Videos[3]. Ähnlich verlief es mit manch anderer gefeierter Neuerung. Die Lektion? Große Durchbrüche brauchen oft mehr Zeit, als der erste Hype vermuten lässt.

Langfristiger Wandel: unterschätzte Wirkung morgen

Während im Hier und Jetzt nicht jede Vision sofort Realität wird, läuft im Hintergrund eine tiefgreifende Transformation ab. „Wir fürchten, dass viele Menschen und Unternehmen die langfristigen KI-Auswirkungen unterschätzen werden“ (KI jetzt!, S. 135). Denn während der kurzfristige Hype irgendwann abflaut, entfalten Technologien ihr volles Potenzial oft erst über Jahre oder Jahrzehnte. Das Smartphone etwa hat binnen 15 Jahren unsere Gesellschaft umgekrempelt – etwas, das sich 2007 kaum jemand in der vollen Tragweite vorstellen konnte. Ähnlich war es mit dem Internet: Um das Jahr 2000 überschätzte die Dotcom-Blase kurzfristig das Potenzial (viele Start-ups floppten), doch zwei Jahrzehnte später ist klar, dass das Internet letztlich mehr verändert hat, als damals gedacht – nur eben nicht in zwei, sondern in zwanzig Jahren.

KI dürfte in 10 oder 20 Jahren allgegenwärtig sein: in praktisch jedem Gerät, jedem Fahrzeug, jedem Arbeitsprozess. Heute stecken wir noch mitten in der Anpassungsphase – Prozesse müssen umgestellt, Mitarbeitende qualifiziert, ethische Leitplanken gesetzt werden.

Kein Umbruch über Nacht – aber stetiger Fortschritt

Für Entscheider:innen heißt das: Lassen Sie sich nicht von jeder reißerischen Schlagzeile verunsichern, aber bleiben Sie wachsam für echte Trends. KI verändert nicht alles sofort, doch sie verändert mit der Zeit nahezu jeden Bereich. Die Kunst besteht darin, echten Fortschritt von bloßem Hype zu unterscheiden. Wer heute nüchtern evaluiert und pilotiert, wird morgen Wettbewerbsvorteile haben, wenn KI-Lösungen ausgereift sind.

Statt in Panik zu verfallen oder in Wunderglauben, sollte man einen langen Atem beweisen. Ja, KI automatisiert viele Routineaufgaben – aber es braucht Anpassung, Integration und oft mehr Daten oder Rechenpower, als man anfänglich denkt. Gleichzeitig darf man KI nicht als Spielerei abtun: Die stille Revolution findet statt – Schritt für Schritt, fast unbemerkt. Heute mag KI manchmal enttäuschen, doch auf lange Sicht wird sie vieles erreichen, was wir ihr momentan noch nicht zutrauen.

Die Entwicklung verläuft exponentiell – doch die Wirkung spüren wir oft erst zeitversetzt. Wer heute lernt, experimentiert und sein Team vorbereitet, wird in einigen Jahren die Früchte ernten.

Im Buch „KI jetzt!“ diskutieren wir (Mark Brinkmann und Kai Gondlach), wie KI unsere Welt in den kommenden Jahrzehnten verändern könnte – und warum Geduld und Weitsicht sich lohnen. Lesen Sie weiter in KI jetzt! und bleiben Sie der Entwicklung einen Schritt voraus.

[1] https://www.ciodive.com/news/enterprise-generative-AI-ROI-pilot-fail-Informatica/739485

[2] https://medium.com/@stahl950/the-ai-implementation-paradox-why-42-of-enterprise-projects-fail-despite-record-adoption-107a62c6784a

[3] https://venturebeat.com/ai/not-there-yet-sora-rollout-receives-mixed-response-from-ai-filmmakers-citing-inconsistent-results-content-restrictions/