Buchtipp: Factfulness (Hans Rosling)

1024 768 Kai Gondlach

Factfulness – wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.“ Ein viel versprechender Titel! Und eine unheimlich wichtige Mission in Zeiten alternativer Fakten, Fake News und Verschwörungsmythen. Kann das Buch halten, was der Titel verspricht?

Was steht drin?

Zur Person: Der schwedische Mediziner und Statistiker Hans Rosling war Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Institutet und Direktor der Gapminder-Stiftung in Stockholm. Durch eine Reihe von TED-Talks erreichte er mehr und mehr den weltweiten Bekanntheitsgrad eines Wissenschafts-Popstars, sein Lebenswerk „Factfulness“ trägt all diese Entwicklungen zusammen und verfolgt das Ziel, Menschen wieder zum Nachdenken zu ermuntern.

Afrika ist arm, die Industriestaaten sind reich, die Weltbevölkerung explodiert und bald gibt es nicht mehr genug zu Essen für alle.

Das sind nur einige der Vorurteile, die Hans Rosling adressiert und charmant mit Anekdoten widerlegt. Das Buch basiert auf biographischen Erzählungen des Autors, die immer wieder durch internationale Statistiken untermauert werden. Diese sammelte Rosling unter anderem mit der Gapminder Stiftung, die er 2005 mit seinem Sohn Ola Rosling und Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund gegründet hat. Dutzende Male hat Rosling mich als Leser bei meinen Vorurteilen bzw. eingefahrenen Annahmen über Zusammenhänge in der Welt erwischt. Gleichzeitig hat er mir auch immer wieder das beklemmende Gefühl der eigenen Dummheit genommen, indem er Umfrageergebnisse teilt. Sie zeigen, dass die wenigsten Menschen in Industriestaaten beispielsweise die Entwicklung der Armut oder Zugang zu Bildung und Medizin in „Entwicklungsländern“ korrekt eingeschätzt haben. Manchmal liegen sogar Nobelpreisträger weiter daneben als der Median der Bevölkerung – selbst Schimpansen tippen oft besser als die subjektiv geprägten Genies.

Und so lernen wir bei der Lektüre unter anderem, dass …

  • … das Bruttoinlandsprodukt der „Entwicklungsländer“ erheblich gestiegen ist.
  • … in den Metropolen der „Industriestaaten“ ärmere Menschen leben als in vielen afrikanischen Ländern.
  • … die Weltbevölkerung nur noch bis ca. Mitte des Jahrhunderts anwachsen wird.
  • … nicht die Menge vorhandenener Nahrung das Problem ist, sondern der Wille, sie gerecht aufzuteilen.

Statt antiquierter Bezeichnungen für Staaten wie Erste vs. Dritte Welt hat Rosling ein Stufenmodell entwickelt, das den individuellen Lebensstandard widergibt. Dazu gehört auch die These, dass man umso weniger Veränderungen auf den unteren Entwicklungsebenen wahrnimmt, je weiter man aufgestiegen ist. Die bekannte Arroganz des „Westens“ also. Dabei bleibt Rosling für meinen Geschmack stets undogmatisch und respektvoll, legt den Finger jedoch spürbar in die Wunden der Ex-Kolonialmächte.

Das Buch folgt im Aufbau verschiedenen Instinkten der Menschen, welche in der vernetzten und medial verzerrten Welt oft auf die falsche Fährte geraten. Schuld daran ist unter anderem unser Drama-Filter, welcher (evolutiv bedingt) die Gesamheit der Informationen, die in jedem Moment auf uns einprasseln, dahingehend prüft, ob sie eine Bedrohung für uns darstellen können. Dieser Filter ist es, der sich von der Berichterstattung vieler Leitmedien in die Irre führen lässt und permanent Stresssignale produziert. Rosling plädiert dafür, den Vorhang zu lüften und sich von dieser sehr einfachen Herangehensweise an Realität zu lösen. Darüber hinaus sollte man sich weniger an den klassischen Charakterzügen des Optimismus, Pessimismus oder Realismus orientieren, sondern eher zum Probabilisten werden. Als Probabilist*in lebt es sich leichter, da man lernt, Zusammenhänge herzustellen, mutmaßliche Fakten zu hinterfragen und ausgewogene Entscheidungen zu treffen. Kann ich nur empfehlen.

Meta

Die erste Auflage in deutscher Sprache erschien posthum 2019; Hans Rosling verstarb leider 2017. Sein Sohn Ola Rosling und Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund vollendeten das Werk. Die beiden sind auch die Köpfe hinter der Gapminder Foundation und der dazugehörigen „Trendanalyzer“-Software. Diese wurde bereits zwei Jahre später von Google gekauft und visualisiert seither auf noch größerer Ebene Informationen, die aus verlässlichen Quellen und Statistiken stammen.

Der Mensch ist durch seine Biologie stark eingeschränkt, wenn er nicht seine Gabe, den kognitiven Supercomputer im Schädel, vernünftig nutzt. Factfulness ist eine erfrischende Herangehensweise an Behauptungen in den Medien – insbesondere Social Media -, die dabei helfen kann, weniger leichtgläubig und gleichzeitig weniger angreifbar zu sein. Wenn man sich die Facebook-Kommentare zu bestimmten Medienmeldungen anschaut (insbesondere seit Corona), kann einem schon übel werden; wenn man diese Entgleisungen einiger weniger kognitiv Gesegneter ins Verhältnis dazu setzt, wie viele Menschen sich für ein friedliches Miteinander engagieren, wird’s besser. Versprochen.

Trivia: Ich höre sehr selten Hörbücher. Factfulness habe ich mir tatsächlich als Hörbuch gegönnt und dann das Taschenbuch bestellt.

Empfehlung: Unbedingt lesen!

Die Chancen stehen nicht schlecht, dass Sie das Buch ohnehin schon gelesen haben. Nicht ohne Grund war es wochenlang auf diversen internationalen Bestseller-Listen. Auf Spotify gibt’s das Hörbuch quasi umsonst. Falls Sie es noch nicht gelesen oder gehört haben, möchte ich es Ihnen unbedingt nahelegen. Und Ihrer Familie. Und Ihren Kolleg*innen oder Angestellten und jedem, dem Sie sonst so begegnen. Wenn Sie das erledigt haben, schreiben Sie mir gern hier einen Kommentar oder eine eMail oder rufen Sie an.

1 Kommentar
  • John
    ANTWORTEN

    Hallo Kai,

    ich finde das Buch auch super – es sollte tatsächlich zur Pflichtlektüre gemacht werden, um flächendeckend mit längst überholten Mythen aufzuräumen. Passend dazu fiel mir neulich „Utopien für Realisten“ von Rutger Bregman in die Hand, was ich ebenfalls sehr großartig fand:)

    Winterliche Grüße aus dem Süden!

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