Corona-Chance statt Corona-Krise

Corona-Chance statt Corona-Krise
300 167 Kai Gondlach

Die aktuelle Pandemie durch das neuartige Corona-Virus (CoViD-19 bzw. SARS-COV-2) trifft – anders als Krisen der jüngeren Vergangenheit – alle/s und jede/n. Eine Katastrophe globalen Ausmaßes? Als Andersdenker und Quermacher denke ich schon an die Zeit danach: Corona ist eine Chance für die Menschheit!

Corona: Gründe für Zuversicht

Innerhalb kürzester Zeit ist das öffentliche Leben in den meisten Staaten nahezu zum Stillstand gekommen. Das ist aus medizinischer Sicht auch gut so, um die Verbreitung des Virus einzudämmen und die knappen Kapazitäten des Gesundheitswesens nicht zu überfrachten. Über die negativen Folgen der Pandemie wird an anderer Stelle viel geschrieben und gesprochen; das entspricht leider immer noch dem Naturell vieler Medien. Unser Nervensystem polt die Aufmerksamkeit immerhin auf Alarmsignale. Angst ist jedoch ein schlechter Berater, wenn es darum geht, Zukunft zu gestalten. Ich befasse mich lieber damit, warum die aktuelle Situation das Vorspiel für eine Rückbesinnung auf gemeinschaftliche, humanistische Werte und Ideale ist.

Entschleunigung: Zeit für Reflexion

Distanz schafft Nähe. Die zuletzt sogar staatlich verordnete Isolation hält uns auf unerwartete Weise einen Spiegel vor. Insbesondere in den freiheitlich demokratischen Demokratien strebten die Menschen in den letzten Jahrzehnten nach Selbstverwirklichung bis zur übertriebenen Selbstinszenierung. „Ich bin individueller als du“, schien die Maxime besonders in den Party-Metropolen und auf Social Media-Plattformen. Dass es so nicht weitergehen kann, war einigen auch schon vor Corona klar. Die aktuelle Lage verdeutlicht diese Erkenntnis jedoch schlagartig. Zusammen ist man weniger allein, oder: Erst mit dem Entzug von Freiheit offenbart sich ihr wahrer Stellenwert. 

Besonders die Generationen Y und Z sind in Zeiten des Überflusses aufgewachsen, in stabilen, wohlhabenden Strukturen – nun lernen sie, was es bedeutet, dass Pasta, Toilettenpapier und andere teils essentielle Produkte nicht mehr im Überfluss verfügbar sind. Entbehrungen steigern die Wertschätzung der kleinen Dinge, es entsteht eine neue Kultur der Dankbarkeit. Räumliche Distanz weicht virtueller Verbundenheit und Vorfreude aufs Wiedersehen. Die wirklich wichtigen Werte des Miteinanders werden vielen erst jetzt bewusst, wenn sie aus dem Alltags-Hamsterrad aussteigen.

Nach Jahren der Beschleunigung erleben wir eine schlagartige Entschleunigung. Wenn Sie mich fragen, ist dies das beste, was der Menschheit passieren konnte! Die meisten europäischen Staaten zeichnen sich durch ausgeprägte Sozialsysteme aus, deren Strukturen nun auf die Probe gestellt werden. Glauben Sie mir, sie werden durchhalten. Und dienen schon jetzt als Vorbild für andere Systeme; selbst die USA, Inbegriff des pervertierten „liberalen“ Raubtier-Kapitalismus, streben staatliche Hilfen für Individuen u.a. in Form von Lohnfortzahlungen bis hin zu einem Grundeinkommen nach dem Helikoptergeld-Modell an. Rückblickend wird sich für derartige Entwicklungen ziemlich sicher die Redewendung „Corona sei Dank“ etablieren!

Zurück zum Individuum. Plötzlich haben Milliarden Menschen viel Zeit mit sich selbst und ihren engsten Angehörigen. Klar kann und muss es dabei auch mal kriseln. Doch was viel wichtiger ist: die Menschen haben Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Das klingt trivialer als es ist. Das Zeitalter der Beschäftigung nach dem Vorbild protestantischer Ethik erleidet einen derben Knick, die moderne Sinn-Suche abseits althergebrachter, meist westlicher Religionen und Kulte liefert auf eine solche Situation wenig Antworten. Dadurch entsteht Raum für eine neue Kultur der Achtsamkeit. Für sich selbst, für die eigene Bezugsgruppe, aber auch für Nachbarn und Fremde. Das größere Bild lässt hoffen, dass diese neue Form der Solidarität immer mehr Menschen an eine friedliche Weltgesellschaft glauben lässt – und dass die prekären Verhältnisse bspw. in Flüchtlingslagern wie auf Lesbos nicht in Vergessenheit geraten. Wir erleben nun selbst einen Bruchteil der Einschränkungen und entwickeln hoffentlich ein neues Verständnis und eine neue Ebene der Empathie für „die anderen“.

Mehr Menschen sind online, wodurch auf allen Kanälen Verschwörungstheorien schneller entkräftet werden können. Schwarmintelligenz entsteht nur dort, wo Grund zur Beschäftigung mit einem Thema gesehen wird. Derzeit häufen sich beispielsweise die Unkenrufe einer staatlich oder geheimdienstlich konzertierten Aktion im Zusammenhang mit der Pandemie; diese sind nicht neu, werden jedoch mit globaler Aufmerksamkeit auch schneller von Fakten-Prüfungen wie Correctiv oder auch Promi-Popwissenschaftlern wie Prof. Dr. Harald Lesch oder Clixoom Science & Fiction aufgespürt und entkräftet. Letztlich bleibt es natürlich jedem Individuum selbst überlassen, an Verschwörungen zu glauben oder sich wertfrei zu informieren. Doch die neue Kultur des Positivismus wird Skeptiker und Freunde des Alarmismus auch langfristig überdauern.

Digitalisierung mit Augenmaß

Die Menschheit steckt in puncto Digitalisierung noch immer in den Kinderschuhen. Plötzlich zwingt uns die Krise jedoch zu großen Schritten: Jetzt, da es nicht mehr anders geht, entsenden die meisten Arbeitgeber ihre Angestellten in Dienstleistungsbereichen ins Homeoffice. Und stellen dabei völlig entgeistert fest, dass ihnen die dafür nötige IT-Infrastruktur fehlt. Überraschung! IT-Unternehmen jeglicher Couleur (Software, Hardwaren, Lösungen, IT-Architekturen) freuen sich bereits auf den Corona-Boom!

Der deutschen Wirtschaft wird in etlichen Studien seit Jahren ein Hinterherhinken im Vergleich zu vergleichbaren Industriestaaten in puncto Digitalisierung bescheinigt. Zuletzt geschah dies sehr eindrucksvoll im November 2019 durch den Branchenverband Bitkom bei der Digitalklausur der Bundesregierung. Unsere Behörden stehen dabei im Fokus der Kritik, was neben der IT-Infrastruktur vor allem an der konservativen Mentalität der Entscheidungsträger*innen liegt. Immer noch obliegt die Systemgestaltung den konservativen Bedenkenträger*innen auf Leitungsebene. Viele Bereiche der öffentlichen Verwaltung, insbesondere im Rechtsbereich, sind ohnehin überfrachtet angesichts des steigenden Pensums. Nie gab es einen besseren Zeitpunkt für die Digitalisierung digitalisierbarer Tätigkeiten.

Das beste, was Führungskräfte jetzt tun können, ist es, ihren Angestellten und Beamten folgende Hausaufgabe mit in die Corona-Isolation zu geben: Wie kann dein Job digitalisiert werden? Willkommen, kreative Lösungen! Dann aber bitte auch mit Gewinn- bzw. Einsparpotential-Beteiligung!

Mit der längst überfälligen Verlagerung von Arbeit ins Homeoffice wird die gesamte Gesellschaft feststellen, dass…

  1. … weniger Stress durchs Pendeln und Dienstreisen gut für die Grundstimmung und die Gesundheit ist.
  2. … Arbeit auch unabhängig vom Einsatzort funktioniert.
  3. … Arbeit aber auch eine soziale Komponente hat und auch nach Corona die sozialen Kontakte durch Arbeit wichtig bleiben.
  4. … weniger Verkehrsunfälle passieren.
  5. … weniger CO2-Emissionen anfallen, wodurch die Luftqualität steigt, Ökosysteme sich erholen und Klimawandelskeptiker vielleicht endlich in der Realität ankommen.

Viele Tätigkeiten können gut, wenn nicht sogar besser, in Telearbeit oder gar durch Maschinen erledigt werden. Nun geht es darum, genau diese Potentiale zu erschließen und jeden einzelnen Arbeitsplatz aufs nächste Level zu heben – dieser Beitrag hat nicht den Anspruch, eine Liste der betroffenen Jobs zu erstellen. Ich bin Zukunftsforscher, kein Ökonom.

Nach sorgfältiger Überlegung bin ich davon überzeugt, dass jeder Mensch weiterhin einen Beitrag zur Gesellschaft leisten kann – auch in der Post-Corona-Epoche oder dem Postkapitalismus (Hinweis: dieser Absatz spielt zeitlich im Ende der 2020er Jahre). Wir müssen lediglich neue Belohnungssysteme prüfen. Eine digitale Zweitwährung wird hier eine wichtige Rolle spielen; für gesellschaftlich und ökologisch wertvolle Beiträge zur Gesellschaft werden Einheiten einer virtuellen Kryptowährung ausgezahlt, die auch in der Realwirtschaft als alternatives Zahlungsmittel zugelassen und vermutlich von einer zentralen Notenbank verwaltet wird. „Social Coins“ verdient man unabhängig von der eigentlichen Beschäftigung durch gemeinwohlorientiertes Handeln, wodurch der Anreiz für soziales Handeln gesteigert, ein Ausbleiben jedoch nicht sanktioniert würde (wie im Beispiel Chinas Social Credit Score System).

(Arbeits-)Marktbereinigung

Seit gut zwei Jahren teile ich in meinen Keynotes die Prognose, dass in den 2020er Jahren zum größten Massensterben von Unternehmen der Geschichte kommen wird. Ehrlicherweise war der Haupttreiber für diese Aussage nicht primär eine Pandemie, auch wenn diese durchaus eine Rolle in Szenarien spielt. Wichtigster Treiber ist eher der Kollaps des globalen Finanzwesens und der folgenden Wirtschaftskrise, ausgelöst durch überbewertete Märkte und die Niedrigzinspolitik der Notenbanken. Nun hat das neuartige Coronavirus diese Prognose etwa zwei Jahre „zu früh“ ausgelöst, am Effekt ändert sich dadurch genausowenig wie durch die staatlichen Darlehen für in Schieflage geratene Unternehmen.

Was folgt darauf?

Die Isolation setzt ungeahnte Innovations- und Kreativ-Energien frei! Die Initiative WirvsVirus hat sich beispielsweise zum weltweit größten Hackathon (48 Stunden für Problemlösung mit kollektiver Intelligenz) entwickelt: Vom 20.-22. März 2020 haben deutschlandweit über 42.000 Menschen an rund 1.500 Projekten getüftelt, um Lösungen für die Herausforderungen der Corona-Krise zu entwickeln. Die Bundesregierung hat mit ihrer Schirmherrschaft die Relevanz der Aktion unterstrichen, in erster Linie ging es jedoch um den Startschuss einer unvergleichlichen zivilgesellschaftlichen Initiative. Der Großteil der Projekte drehte sich um die Lösung sozialer Fragen, wie die Versorgung von Risikogruppen, Unterstützung in Konfliktsituationen, Wertschätzung der systemrelevanten Berufe im Gesundheitswesen*, der Logistik oder dem Einzelhandel – viele werden auch nach Abschluss des Hackathons weiterentwickelt. Aus Prototypen werden im Eiltempo echte Lösungen. Aus Lösungen entstehen neue Unternehmen. Auch diese Entwicklung spiegelt gängige Prognosen der Zukunftsforschung wider: die Zeit der Vollzeitverträge in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen geht langsam zuende. Immer mehr Menschen streben hybride Einkommensmodelle an und werden zum Teil fest angestellt, zum Teil aber freiberuflich oder (gewerblich) selbstständig tätig sein.

Zusammengefasst: Ja, es wird eine vorübergehende Welle steigender Arbeitslosenzahlen geben. Ja, viele Unternehmen – kleine wie große – werden die Krise nicht überstehen. Diese beiden Bedingungen dürften nach meiner Einschätzung jedoch zu einer lange überfälligen Innovationswelle führen, deren positive Auswirkungen sich ab ca. 2022 bemerkbar machen.

Fazit: Phönix aus der Asche

Apokalyptische Prophezeiungen bieten tolles Material für Blockbuster, Weltuntergangsszenarien kommen besser beim Publikum an. Death sells. Wann kommen eigentlich die Außerirdischen und übernehmen die Weltherrschaft? Man weiß es nicht. Und das sollte eine ebenso periphäre Rolle bei Zukunftsszenarien spielen wie die Schwarzmalereien vieler Angstmacher*innen da draußen.

Bitte machen Sie nach der Krise nicht weiter wie vorher. Nutzen Sie Ihre frei gewordene Zeit und zoomen heraus in die Totale. Bleiben Sie skeptisch. Wagen Sie mehr Zuversicht. Warten Sie nicht auf den Ausgang der Krise, sondern gestalten Sie ihn mit. Wir leben in einer aufregenden Zeit, in der jede*r einen Akzent setzen kann!

Übrigens: Dieser Beitrag will nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele negative Aspekte mit der aktuellen Lage einhergehen. Im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wäre es jedoch verheerend, nur auf die befürchteten Verluste, Einbußen und Stolpersteine zu fokussieren. Umso wichtiger ist es, positive Bilder der Zukunft zu entwerfen und an deren Umsetzung zu arbeiten. Teilen Sie diesen Beitrag bitte mit Ihrem Netzwerk, wenn Sie das auch so sehen. Und denken Sie daran: Zukunft ist eine Frage der Perspektive!

Inspiration und andere Quellen

Deutscher Bundestag (2013): Drucksache 17/12051 vom 03.01.2013: Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012. Online abgerufen am 27.03.2020. [Update 03.04.2020]

Inayatullah, Sohail; Black, Peter (2020): Neither A Black Swan Nor A Zombie Apocalypse: The Futures Of A World With The Covid-19 Coronavirus, Journal of Futures Studies.

Rifkin, Jeremy (2018): Der globale Green New Deal.

Mariana Mazzucato (2020): Coronavirus and capitalism: How will the virus change the way the world works? World Economic Forum (02.04.2020). [Update 13.04.2020]

* Menschen in systemrelevanten Berufen leiden zum Teil unter der aktuellen Belastung – danke für den Hinweis, Elisabeth Luther! Lagermitarbeitende, Gesundheitsdienstleister, Krankenschwestern, Pfleger*innen und viele mehr stützen das System und das verdient Anerkennung, wie oben auch beschrieben Wertschätzung – und ich hoffe auch langfristig bessere Berücksichtigung im Lohnsystem (Update 27.03.2020).

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