Das Zeitalter der Exnovation


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Kai Gondlach

Innovation war gestern. Die wenigsten kennen heute den Unterschied zwischen inkrementeller und disruptiver Innovation. Spielt aber auch keine Rolle, denn viel wichtiger ist im 21. Jahrhundert die Fähigkeit zur Exnovation.

Homo sapiens und Innovation

Unsere Spezis, der homo sapiens, hebt sich durch eine essentielle Eigenschaft von anderen Säugetieren ab: mithilfe von immer ausgefeilteren Werkzeugen und Techniken (=Technologie) werden scheinbar unüberwindbare Hürden genommen*. Dazu gehört im weitesten Sinne auch die Sprache und Schrift, ebenso die Nutzung des Feuers, die Erfindung des Rades, des Webstuhls und der Dampfmaschine. Die Geschichte der Innovation ist spannend, turbulent und teils tragisch, aber dazu kommen wir später.

Ein wesentliches Merkmal der Innovation ist, dass durch die Entwicklung neuer Methoden, Werkzeuge oder eben Technologien alte, bis dahin gültige Vorgehensweisen obsolet werden. Soweit, so trivial. Das kann schrittweise (inkrementell) oder schlagartig (disruptiv) passieren. Ein paar Beispiele, um diese Begriffe mit Leben zu füllen:

Beispiele für inkrementelle Innvationen:

Regenschirme wurden aus dem frühen Mittelalter bis in die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert nur spärlich verwendet. Passte auch einfach nicht zu der Zeit… jedenfalls entwickelten sich die regenabweisenden Helferlein über die Jahrhunderte bis heute zu wahren Spezialisten weiter – nicht zuletzt angefacht durch den Wettbewerb im aufkommenden Kapitalismus. Die Wikipedia-Liste der Typen von Regenschirmen ist länger als mein 15″ Notebook-Monitor anzeigen kann. Quintessenz: Das Produkt wurde über Jahrhunderte in vielen kleinen Schritten optimiert, um es den Gegebenheiten und dem Kundennutzen anzupassen.
Schreibinstrumente. Wie viele unterschiedliche Kugelschreiber, Füllfederhalter, Bleistifte, Permanentmarker sind heute erhältlich? Zurück geht die Geschichte ins Jahr … weiß niemand so genau. Die Menschen der Steinzeit verwendeten bereits Kreide, Knochen und Kohle, um Botschaften in den Wänden ihrer Behausungen zu verewigen. Innovation ist also älter als homo sapiens, aha! Wie dem auch sei, heute schreiben wir noch immer unsere Gedanken für uns selbst und unsere Nachwelt auf; mit gewöhnlichen Stiften über Luxusausführungen von Montblanc bis zu digitalisierenden Kontaktstiften von Apple oder HP. Inkrementelle Innovation!
Matratzen, Stühle, Brücken… Die meisten allgegenwärtigen Errungenschaften der Menschheit wurden inkrementell entwickelt und über viele Jahrhunderte zum jetzigen Stand optimiert. Das mindert nicht ihren unabdingbaren Wert für unseren Alltag, ist aus jetziger Sicht eindeutig inkrementell. Strohmatten wurden verbessert, Schemel komfortabler gestaltet, vormalige Flussüberquerungen „überbrückt“. Schritt für Schritt.

Beispiele für disruptive Innovationen:

Das Automobil verdrängte zur Jahrhundertwende um 1900 Kutscher, Stallungen und Reitbetriebe vom Markt. Genauso wird es bald klassischen Autobauern, deren Zulieferern für Schaltgetriebe oder Rückspiegel und Führerscheinanbietern gehen. Marktführer werden aus ihrem eigenen Markt verdrängt? Disruptive Innovation!
Digitalkameras verdrängten analoge Modelle vom Markt, weil sie zu vergleichbaren Preisen erhältlich waren und über die klassische Funktion des Festhalten von Momentaufnahmen in der Lage waren, diese Eindrücke beliebig oft zu vervielfältigen. Immer wieder ironisch: Die erste Digitalkamer wurde von einem Mitarbeiter des damaligen Marktführers Kodak entwickelt, aber vom Vorstand abgelehnt – entsprach ja nicht der Produktpalette… wenige Jahre später meldete der Konzern Insolvenz an. Disruption!
CDs verabschiedeten Vinylplatten vom Massenmarkt, DVDs lösten VHS-Kassetten ab, MP3s und Streaming-Plattformen ersetzten in kurzer Zeit sämtliche Datenträger und verlagerten das Geschäft ins Internet. Nur wenige wissen, welche Branche insbesondere das Format für Videoaufnahmen dominiert… schreiben Sie gern einen Kommentar dazu ????
Smartphones läuteten in kürzester Zeit den Niedergang der klassischen (Mobil-)Telefonindustrie ein, in der selbst 2007 – nach Ankündigung des Apple iPhone – noch (retrospektiv) amüsante Leichtigkeit ob der drohenden Innovation herrschte. Nokia als Marktführer verlor in kürzester Zeit den Boden unter den Füßen – disruptive Marktverschiebung.
Prinzipien geklärt? Okay, dann weiter ins 21. Jahrhundert!

Innovation im 21. Jahrhundert

Ich spare mir an dieser Stelle die Auflistung der bahnbrechenden Innovationen des 21. Jahrhunderts. Allerdings möchte ich an einem Beispiel zeigen und punktuell auf Beispiele aus anderen Bereichen verweisen, welche meine These belegen sollen: Für den Großteil der Akteure in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ist das Zeitalter der Innovation vorbei; das Zeitalter der radikalen Exnovation hat begonnen.

Nie zuvor hat die Menschheit in einer vergleichbaren Geschwindigkeit Innovationen entwickelt wie heute. Ich sage in meinen Vorträgen oft: „Heute ist der letzte Tag in Ihrem Leben, an dem die Veränderungsgeschwindigkeit so langsam war.“ Denn dank der Mooreschen und Metcalfeschen Gesetze beschleunigt sich noch ein paar Jahre die Geschwindigkeit der potentiell möglichen Technologieinnovation. Ob wir das nun gut finden oder nicht, Technologie und die Logiken in unserem Wirtschaftssystem treiben unsere Welt. Das führt unweigerlich dazu, dass an manchen Stellen Lösungen oder Produkte erfunden werden, die andere ersetzen.

Ein tragisches Beispiel lässt sich seit ein paar Jahren in einer der wichtigsten Industrien für das deutsche Wirtschaftssystem beobachten: die Automobilindustrie hat viele Jahrzehnte lang davon profitiert, vermeintlicher Vorreiter in der Entwicklung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren (Ottomotoren mit Benzin oder Dieselantriebe) zu sein. Ungeachtet der globalen Gemengelage haben die großen Konzerne herrlich egozentrisch weiter an ihren Modellen gefeilt, Märkte erschlossen, Margen gesteigert, die Aktionäre glücklich gemacht – auf Kosten der Steuerzahler sowie der Umwelt. Das kriminelle System, welches Emissionswerte der Motoren wissentlich manipuliert hat, flog viel zu spät auf und die Image-Schäden der „systemischen“ Marken fällt verhältnismäßig gering aus. Außerdem: Hauptsache, die Karre schafft auf der Autobahn 250 km/h.

Also machten die Großen weiter wie gewohnt, auch wenn ich aus vertraulichen Gesprächen mit diversen Insidern von Volkswagen, Daimler und BMW weiß, dass die Konzerne auf Panikmodus operieren und eher einem Wespennest als einem wohl sortierten Unternehmen gleichen. Wie dem auch sei: Das althergebrachte Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr. Um das zu erkennen, muss man kein teuer bezahlter McKinsey-Berater im VW-Konzern sein. Längst stehen alle Zeichen auf „Mobilität als Dienstleistung“ (mobility as a service, MaaS) über Absatz von Fahrzeugen, längst werden alternative Antriebe marktreif, längst sind internationale Wettbewerber im Silicon Valley, China oder Israel viel weiter in der Entwicklung autonomer Fahrzeuge. Und doch hängt auch im Jahr 2019 in Deutschland noch jeder dritte Arbeitsplatz mittelbar an der Automobilindustrie inkl. Zulieferer und Peripherie.

Es ist inzwischen eine unausgesprochene Gewissheit, dass die goldene Zeit des Autostandorts Deutschland vorbei ist. Doch was nun? Diese Zäsur der Innovationsgeschichte wird in die Geschichtsbücher eingehen. Stellt sich die Frage, wie mit diesem rosa Elefanten umzugehen ist. Ein inhärentes Merkmal der Innovation ist, dass aufgrund von grundlegenden Innovationen (wie jetzt E-Antriebe, Plattformökonomie und autonome Fahrzeuge) Arbeitsplätze wegfallen. Das traf seinerzeit die Landwirte, dann die Weber, dann die Fernsprechverbinder und so weiter. An dieser Stelle möchte ich ausdrücken, dass jedes einzelne und familiäre Schicksal, das durch Arbeitsplatzverlust geprägt wird, potentiell tragisch ist. Über Verantwortung sprechen wir ein andernmal. Gleichzeitig können wir durch die Eigenheiten des menschlichen Strebens zu immer neuen Innovationen doch auch mal etwas lernen, immerhin haben nicht zuletzt Martin Luther, Johannes Calvin und schließlich Max Weber, der die Idee der Protestantischen Ethik viel später verschriftlichte, schon vor vielen Jahrhunderten gewusst, was technologische Innovationen mit sich bringen.

Exnovation im 21. Jahrhundert

Infolge mehr oder weniger radikaler Innovationen entwickeln (in der Regel) Unternehmen Geschäftsmodelle, die den Kundennutzen auf neue Art und Weise befriedigen (mithilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse). Ein Teil der bitteren Wahrheit ist, dass infolgedessen die ehemaligen Anbieter der (nun) überholten Vorgehensweisen Marktanteile einbüßen und dies die Beschäftigungsgrundlage für die Menschen in dem Sektor entzieht. Wechseln wir mal die Perspektive. Die „alten“ Anbieter haben den Zeitgeist verschlafen, weshalb nicht die Innovation an sich, sondern die konservativen Arbeitgeber und manchmal auch die Arbeitnehmervertretungen „Schuld“ sind am Strukturwandel. Hätten sie sich rechtzeitig um nahende Entwicklungen gekümmert und ihr Geschäftsmodell, ihre strategischen Investitionen, ihre Personalpolitik etc. daraufhin justiert, wären sie dem Drama entgangen. Sind sie aber nicht. Also streichen Bayer 4500 Stellen, ThyssenKrupp 6000, die Deutsche Bank über 7000, insgesamt könnten durch die Großbankenfusion von Deutscher Bank und Commerzbank 50.000 Stellen wegfallen. Was viel klingt, ist im Vergleich zur Automobilindustrie mit den tausenden Zuliefererbetrieben eine kleine Nummer. Meiner Ansicht nach ist das fahrlässig.

Nach den 1950er Jahren erlebte Deutschland einen unvergleichlichen Wirtschaftsaufschwung. Der Volkswagen, die billige Atomkraft, wiederkehrende diplomatische Akzeptanz und starke Wirtschaftsbündnisse sind nur einige der Kennzeichen für bislang prosperierenden Reichtum. Über die Jahrzehnte haben die größten Konzerne des Landes dabei offensichtlich eine Tugend des Mittelstandes verlernt. Die besagt, selbst in zufriedenstellenden Zeiten (= bei guter Auftragslage, bei hinreichend vielen Produktinnovationen) auch den Gesamtmarkt nicht aus dem Blick zu verlieren. Dieser hat schon in den späten 00er Jahren klare Signale gesendet, dass das Zeitalter der klassischen Industrien durch globale und digitale Akteure und Plattformen bedroht ist. Das für die Automobilindustrie schmerzliche Stichwort lautet an der Stelle „Tesla“, für Versicherer ist es „check24“, für Notare „Blockchain“ und für Mediziner „Watson“.**

Innovation heißt heute auch Exnovation

Die Gemeinsamkeit all dieser vermeintlich innovativen Unternehmen: Sie haben sich zu sehr auf Innovation versteift. Das geschah sicher nicht ganz ohne Zutun ihrer Beratungsfirmen, die das Augenmerk schon immer auf die Cash Cows gelegt haben und Prozesse strikt dahingehend optimierten, Einsparungen an den wirklich wichtigen Stellen zu rechtfertigen. Innovation ist wichtig und richtig, doch ist es im 21. Jahrhundert umso wichtiger, alte Wahrheiten immer wieder auf den Prüfstand zu stellen.

Innovationen trieben den Status Quo schon immer zum Umdenken und neu handeln. Übersetzt in Unternehmenssprache heißt das Schlagwort also Exnovation: die Fähigkeit, gelernte und bewährte Methoden zu verlernen, abzulegen, neu zu denken. Wir müssen uns damit anfreunden, Werkzeuge, Methoden, Technologien, Produktionsstätten, Arbeitsroutinen und Prozesse zu ersetzen, um im 21. Jahrhundert als Organisation zu überleben. Auch, wenn es erstmal wehtut.

Anmerkungen

* Richtig, andere Spezies verwenden auch Werkzeuge, um Probleme zu bewältigen, und nutzen auch Sprache. Das ist aber nicht Thema dieses Beitrags.

** Dieser Schmerz wäre nebenbei bemerkt nicht so groß, wenn die erwähnten Akteure rechtzeitig schwache Signale (weak signals) ernst genommen hätten. Klar, es gibt unzählbar viele schwache Signale über Technologie- oder Geschäftsmodellinnovationen „da draußen“. Nicht jedes ist seriös. Doch genau das ist ja der Zweck der Zukunftsforschung: Erwartbare, wahrscheinliche und konsistente Bilder der Zukunft zu zeichnen, um die Entscheidungen der Gegenwart zu verbessern.

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