Was ändert der Ukraine-Krieg für die Zukunftsforschung?

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Die Initiative D2030 – Deutschland neu denken e. V. lädt monatlich zu Futures Lounges ein. Am 6. April 2022 war ich einer der eingeladenen Gäste für die Diskussion bzw. Impulsrunde. Wir wurden gebeten, in ca. 5-minütigen Beiträgen der Frage nachzugehen, inwieweit der Ukraine-Krieg unser Metier beeinflusst. Bei der Zoom-Session gab es eine rege Beteiligung, die bei Youtube nachgesehen werden kann (mein Part beginnt bei Minute 28:28). Dies waren die weiteren Impulsgeber:innen:

Meine „Polemik“ auf die notwendige Veränderung der Zukunftsforschung

Hurra, diese Welt geht unter…

Mal wieder. Selbst ich als nicht ganz 35-Jähriger bin schon abgestumpft, was Weltuntergangsgesänge angeht.

Ich wurde kurz nach der Tschernobyl-Katastrophe geboren. Kurz darauf folgte das Ende der Geschichte, das dann doch nicht stattfand – genauso wenig wie das endgültige Ende des Kalten Kriegs. Der Jugoslawien-Krieg erschütterte die europäische Idee der friedlichen Koexistenz und dem Ende von Genoziden. Dann kam der Krieg gegen den Terror, der den nüchternen Prognosen entsprechend verloren wurde – Bankenkrise, Klimakrise, Biodiversitätskrise, Pandemien von Sars über Mers bis Covid.

Und nun?

Hurra, diese Welt geht unter –

Wir hocken im Atomschutzbunker

Warum? Weil Tschernobyl kürzlich brannte und Fukushima wieder durch ein Erdbeben erschüttert wurde, weil Putin, Lawrow und Kim Jong-Un wieder atomare Sprengköpfe in Stellung bringen. Wir horten Klopapier und Pasta und sprechen wie selbstverständlich schon vom „New Normal“ nach Pandemie und Ukraine-Krieg.

Heute wollen wir eigentlich genau diesen Ukraine-Krieg zum Anlass nehmen, neu zu denken. Aber das ist doch, wenn wir ehrlich sind, nur der Tropfen, der das Fass hoffentlich ENDLICH zum Überlaufen bringt.

Klaus Burmeister und die Initiative D2030 haben uns eingeladen, die Implikationen für die Zukunftsforschung zu diskutieren. Hier meine Einschätzung als Impuls zur Diskussion.

Hört auf zu versuchen, eine objektive Realität nüchtern beschreiben zu wollen!

Erstens gibt es die ohnehin nicht und das sollten auch alle Zukunftsforschenden wissen, wenn sie sich mit Kybernetik und den Ideen des radikalen oder wenigstens relationalen Konstruktivismus auseinandergesetzt haben.

Zweitens hilft es niemandem, wenn wir in Studien, Büchern, Artikeln und Interviews immer nur Fakten aufzählen und neu sortieren, aber nicht die Implikationen für Zukünfte daraus ableiten.

Und drittens ist ohnehin jede Aussage über Zukünfte normativ. Denn in dem Moment, in dem ich ein Narrativ bediene und ein anderes nicht, habe ich ja schon dem einen den Raum in der Zukunft eingeräumt … und dem anderen  eben nicht. Wer in der Zukunftsforschung tätig ist, kann sich also von der Idee verabschieden, objektiv und rein rational über Möglichkeitsräume zu sprechen. Die Welt braucht Gestaltungsräume und -anleitungen zur Disruption, Renovation, Exnovation!

Dass wir dabei auch auf Abstand gehen müssen zur Vorherrschaft der Weißen im globalen Norden, insbesondere zu den alten, weißen Männern, ist zumindest theoretisch längst Konsens. Doch wer A sagt, muss auch B sagen – darf zum Beispiel nicht nur Geflüchtete aus der Ukraine zum Anlass nehmen, einen Systemwandel zu forden, sondern auch jene aus dem Jemen, aus Syrien, aus Mali, aus Kolumbien oder den Philippinen. 

Auch dürfen wir keine Gelegenheit auslassen, die mutwillige Zerstörung der Biosphäre, das sechste große Artensterben nach der Auslöschung der Dinosaurier, den grenzenlosen Konsum auch 50 Jahre nach Erscheinen der wohl besten Zukunftsstudie aller Zeiten „Die Grenzen des Wachstums“,  sowie deren systemisch verankerte Mechanismen und Fortschrittsmythen anzuprangern.

Darum sage ich:

Zukunftsforschende aller Länder, vereinigt euch!

Die Zukunftsforschungsabteilungen in Großkonzernen müssen, so es sie denn noch gibt, zurück zu Anstand und Moral finden, anstatt sich für die primär ökonomischen Ziele der Marketing- und Produkt-Abteilung instrumentalisieren zu lassen. Wachstum ja, aber niemals auf Kosten der Allgemeinheit! Wenn wir das nicht heute begreifen und morgen laut kommunizieren, um es übermorgen umzusetzen, werden wir am Ende alle verloren haben.

Die ach so unabhängigen Thinktanks dieser Welt wiederum sollten endlich verstehen, dass das nächste Gadget, der nächste Hype, die nächste Facebook-Sau, pardon, Meta-Sau, die durchs Dorf getrieben wird, keinen unmittelbaren Wert für die Zukunft hat. Ich vermisse bei den ganzen Trendbooklets den Faktor Verantwortung, das holistische Denken und vor allem eine eigene Haltung abseits von Schwarz vs. Weiß, Gut vs. Böse. Die Menschen, besonders die Unternehmen brauchen EUCH, um ihr Denken neu auszurichten. Wenn ihr nur deren Systemlogik wie ein mittelalterlicher Hofdichter repliziert, haben wir nichts gewonnen.

Die akademischen Einrichtungen der Zukunftsforschung müssen aufhören, sich von ihren Auftraggebern die Suppe versalzen zu lassen. Ihr wisst alle, was ich meine. Ich kann weder im Projektantrag mit Sicherheit sagen, welche Methoden letztlich sinnvollerweise zur Anwendung kommen werden, noch viel weniger kann ich deren erwartete Ergebnisse skizzieren. Und ich kann mit keiner Ethik dieser Welt rechtfertigen, dass Forschungsergebnisse kurz vor Projektende vom Auftraggeber höchstselbst redigiert werden, damit es besser zur politischen Linie passt.

Die Vereinten Nationen, deren Bildungs-Arm UNESCO, die globalen Vereine der Zukunfts- und Trendforschung World Futures Studies Federation und Association of Professional Futurists – es gibt sie, die geteilten Werte von Atlanta nach Indonesien, von Stellenbosch bis Turku, von Bogota bis Berlin und auch von Saudi-Arabien bis Peking. Das sind auch oder besser: vor allem die SDGs, die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, für eine gerechte, gesunde, sichere Welt ohne Ausgrenzung und Gewalt.

Die UN allein planen in den kommenden Jahren die Verankerung von Foresight in einem Futures Lab, planen eine Declaration on Future Generations, den UN Special Envoy on Future Generations, einen regelmäßigen Strategic Foresight and Global Risk Report und schon 2023 den Summit of the Future.

Hurra, diese Welt geht unter – oder auch nicht. Letzteres gelingt aber nur, wenn es uns Zukunftsforschenden gelingt, von relevanten Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und auch dem Militär ernstgenommen zu werden.

Also: Bringt euch ein, werft eure Glaskugel und den Mantel der Objektivität weg und seid unbequem.

Danke.

Disclaimer

Viele werden es bemerkt haben, der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dass die Zeilen „Hurra, diese Welt geht unter“ und „wir hocken im Atomschutzbunker“ Zitate aus einem Song der Berliner Hip-Hop-Formation K.I.Z. aus dem Jahre 2015 sind.

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