Haben Sie schon einen Chief Futures Thinker oder Chief Foresight Officer?
Das Zeitalter der Digitalisierung ist auch das Zeitalter der Beschleunigung, der Veränderung und damit auch neuer Berufstitel. Wer heute keinen CHRO, CDO oder CCO (Human Ressources, Digital, Change) Officer beschäftigt, taucht nicht mehr in den Leitmedien unter dem Attribut „innovativ“ oder „relevant“ auf. Alles schön und gut. Wie wäre es aber mal lieber mit einem Chief Futures Thinker (CFT) oder Chief Foresight Officer (CFO), also einer/m expliziten Zukunftsforscher*in als Vorstands- oder Geschäftsleitungs-Mitglied? Die folgende Liste liefert ein paar Argumente für Ihre Entscheidung (oder Bewerbung).
Sapiens 2.0 - Kurzer Ritt in die Zukunft der Menschheit
Exponentieller Technologiefortschritt, globalisierte Ökonomie, Werte- und Demografie-Wandel... was bedeutet das für Homo Sapiens in naher Zukunft? Ein globalgalaktischer Versuch, die Zukunft unserer Spezies zu denken.
Automatisierung vernichtet keine Jobs. Arbeitgeber tun das.
Es geistern immer wieder Statistiken und Prognosen über die Vernichtung von Jobs bzw. Arbeitsplätzen infolge der aktuellen Automatisierungswelle und künstlicher Intelligenz durch die Medien. Glauben Sie bitte keiner von denen. Alles Quatsch. Lust auf eine kleine Prise Tiefgang? Lesen Sie meine kurze Meinung als Zukunftsforscher zu dem Thema...
Warum der Hyperloop die Lufthansa angreift, nicht die Bahn
Rohrpost für Personentransport. Klingt ein bisschen nach „Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft“? Dabei ist die Idee von einem Magnetzug in einem Vakuum-Röhrensystem – dem Prinzip Hyperloop – nicht neu, war aber aufgrund der technologischen Hürden selbstverständlich über ein Jahrhundert eine Utopie. Vor einigen Jahren hat dann der wohl prominenteste Milliardär und Technologie-Guru Elon Musk die verrückt anmutenden Überlegungen in einen Bauplan verwandelt, getreu dem Motto „alle sagten, es geht nicht. Dann kam einer, der das nicht wusste und machte es einfach“. Anstatt ein Patent anzumelden warf Musk diesen Plan dem Internet zum Fraß vor, weil er sich zu der Zeit lieber um seine anderen Projekte kümmern wollte.
Es dauerte nicht lang, bis sich einige visionäre Ingenieure daran machten, den Plan auf Machbarkeit zu prüfen – und sich Geschäftsmodelle zu überlegen, mit denen sie auf Investorensuche gingen. Das ging dann alles sehr schnell und plötzlich kristallisierten sich zwei konkurrierende und gleichzeitig sehr unterschiedliche Unternehmen heraus: Hyperloop Transportation Technologies (HTT) und Hyperloop One (heute Virgin Hyperloop One (VHO), nachdem Richard Branson, der andere verrückte Milliardär, dazustieß). Ich hatte das große Vergnügen, mich mit Dirk Ahlborn, dem CEO von HTT beim 2b AHEAD Zukunftskongress 2016 zu unterhalten; da haben wir ihm nämlich einen Innovators Award für sein Projekt verliehen und viele interessante Dinge gelernt.
2020-25: Frachttransporte in Phase 1
Zurück zum Hyperloop an sich. Das Rohrpostsystem verspricht in beiden Varianten Fortbewegung mit nahe-Schallgeschwindigkeit. Der erste Use Case ist natürlich die Beförderung von Fracht, bevor Lebewesen mit den Pods schneller und einfacher denn je zwischen den Metropolen der Welt reisen werden. Erste Strecken werden geplant, selbst der Hamburger Hafen liebäugelt mit dem Hyperloop.
Wenn die Verbreitung des Automobils Kutscher verdrängte, mehrere neue Industrien begründete (neben der Herstellung von Autos und den benötigten Teilen auch zeitgemäßen Straßenbau, Verkehrsleitsysteme, das Kraftfahrtbundesamt und vieles mehr) – welchen Effekt wird dann der Hyperloop haben? Dass die Welt ein weiteres Stück zusammenwächst, liegt auf der Hand. Doch wer sind die Kutscher, die mit den Hufen scharren und die Einführung der ersten Hyperloop-Strecken fürchten? Kleiner Tipp (steht ja auch schon in der Überschrift): Es sind nicht die Bahnunternehmen, denn auf kurzen und mittleren Strecken entfaltet ein Hochgeschwindigkeitszug natürlich nicht sein volles Potenzial.
Luftverkehr-Anbieter investieren in HTT- und VHO-Projekte
Stattdessen sind es die Flugzeugbauer und Airlines, die die Konsequenzen des Hyperloop fürchten und in ersten Projekten mit HTT und VHO stecken. Eine mächtige, zahlungskräftige Konstellation, die zweifellos dazu führen wird, dass nichts ungetan bleiben wird, politische und legislative Hürden zu nehmen und erste Strecken in Betrieb zu nehmen. Auf fast allen Kontinenten sind inzwischen erste Verträge (oft mit Regierungen) in Arbeit oder unterschrieben, die den Weg freimachen für den ersten Spatenstich. In den innovativsten Forschungszentren sowie bei den beiden Hyperloopern arbeiten Wissenschaftler, Ingenieure und Wirtschaftswissenschaftler unter Hochdruck daran, die Röhrensysteme, Pods, Energiemanagement und Innendesign der Systeme zu entwickeln.
Und ganz nebenbei: Natürlich ist ein Hyperloop sehr viel umweltfreundlicher als kerosinbetriebene Flugzeuge. Vorausgesetzt, der Strom stammt von regenerativen Energieträgern. Damit könnten die Hyperloop-Projekte eher unbewusst die Politik und den Energiesektor unter Druck setzen, die Energieerzeugung schneller als eigentlich geplant auf „erneuerbar“ umzustellen. Meine Einschätzung dazu ist, dass auch hier andere Staaten schneller sein werden als Deutschland – selbst wenn wir hier aktuell einen Anteil erneuerbarer Energien im Energiemix haben, der sich international sehen lassen kann.
Die Fahrt im Hyperloop wird kostenlos für Passagiere
Dirk Ahlborn kündigte beim Wirtschaftsforum in Davos 2018 an, in knapp drei Jahren die erste Strecke für Passagiere eröffnen zu können. Übrigens hat er auch angekündigt, dass niemals ein Passagier für ein Ticket zahlen wird, womit wir mal wieder beim Thema kostenloser Verkehr wären. Voraussichtlich wird die erste Hyperloop-Strecke gar nicht soweit von den Bundesgrenzen entfernt liegen: Frankreich möchte das erste europäische Land mit einem Hyperloop sein. Dann möchte ich unter den ersten sein, die Tickets zur Jungfernfahrt haben. Ich werde berichten!
Photo: https://en.wikipedia.org/wiki/Hyperloop
New Work: Neue Arbeit im Zeitalter der Digitalisierung
Was steckt eigentlich hinter dem Konzept von „New Work"? Was bedeutet Neue Arbeit für Sie als Personaler*in, Unternehmer*in oder Angestellte*r? Ein schneller Ritt durch die schöne, neue Arbeitswelt.
Begriffsbestimmung
Wie es sich für einen pseudo-wissenschaftlichen Beitrag gehört, möchte ich zunächst den Begriff definieren. Denn ich möchte wetten, dass Ihre Idee von New Work eine andere ist als meine und vermutlich auch als die Ihrer Angestellten oder Kolleg*innen.
Immerhin: Der Suchbegriff „New Work“ liefert bei Amazon über 100.000 Resultate, bei buch7.de findet man 39 deutschsprachige Bücher und 3522 Englische. Anschnallen: Wir betreten #Neuland!
Ursprung: New Work nach Bergmann
Das Konzept von New Work hat seine Wurzeln in den USA und wurde vom in Sachsen geborenen US-Österreicher Frithjof Bergmann bereits in den 1980er Jahren entwickelt. Bergmann betrachtete die Entwicklungen der kapitalistischen und kommunistischen Ökonomien kritisch. Als eine heftige Rezession die Automobilstadt Flint in Michigan traf, gründete er dort das erste Zentrum für Neue Arbeit. Dessen Ziel war es, Menschen auf den erwarteten Zusammenbruch der herkömmlichen Wirtschaftswelt vorzubereiten. Erst 2004 veröffentlichte Bergmann seine Ideen im Buch „Neue Arbeit, neue Kultur".
Bergmanns drei zentrale Thesen fußen auf der zunehmenden Automatisierung und Globalisierung. Er projizierte diese beiden Megatrends in die Zukunft und kam zu dem Ergebnis, dass die klassische Lohnarbeit kein tragfähiges Konzept für die Wirtschaft sei.
- Im Ergebnis erschien es Bergmann naheliegend, die Erwerbsarbeitszeit deutlich zu reduzieren, weil schließlich nicht genug Arbeit für alle Menschen in einem geographischen Gebiet verfügbar wäre.
- Diese Menschen würden ihre Güter für den alltäglichen Gebrauch in Hightech-Eigenproduktion selbst herstellen und in Netzwerken jedem frei zur Verfügung stellen.
- Eine starke normative Komponente kritisierte den Überfluss der Konsumgesellschaft, weshalb ein großer Teil der Güter und Waren des täglichen Lebens – so Bergmanns Argumentation – ohnehin überflüssig seien. Der Ansatz war damals natürlich revolutionär und wurde als anarchisch verschrien. Letztlich klingt das aber auch sehr schön, wenn nicht gar utopisch, denn die freigewordene Zeit sollen die Menschen in der schönen, neuen Arbeitswelt mit dem füllen, was sie am liebsten tun und am besten können. Viel mehr Menschen würden sich künstlerisch oder sportlich oder musisch oder floristisch oder, oder, oder… betätigen. Freiwillig.
Deutsche Adaption: Neue Arbeit nach Markus Väth
Obwohl die ersten Anzeichen für einen Wandel der Arbeitswelt spätestens seit der Jahrtausendwende immer offensichtlicher zutage traten, dauerte es hierzulande bis 2016, bis ein vergleichbares Standardwerk für die neue Arbeitswelt erschien. Der Psychologe und Informatiker Markus Väth nannte sein erweitertes und aktualisiertes Konzept „Arbeit – die schönste Nebensache der Welt". Väth bestimmte darin fünf Dimensionen der Neuen Arbeit:
- Psychologische Dimension: Ähnlich wie Bergmann erfüllt für Väth die Arbeit für den Menschen einen Zweck, nicht umgekehrt. Die Entfaltung des Individuums soll im Zentrum der Arbeitswelt stehen.
- Soziale Dimension: Im Beruf entstehen zwangsläufig mehr oder weniger intendierte zwischenmenschliche Beziehungen. In der neuen Arbeitswelt findet immer mehr Teamarbeit statt, moderne Führungskonzepte wiederum verteilen die Entscheidungsgewalt quasi-demokratisch auf mehrere Schultern der Angestellten.
- Technologische Dimension: Nach der großen Welle der Automatisierung im 20. Jahrhundert geht es nun an die Digitalisierung. Ziel dieser Veränderung ist natürlich die Effizienzsteigerung der Unternehmen bzw. Organisationen, welche zwangsläufig zu Veränderungen in der Personalbedarfsplanung führen (maximal objektiv formuliert).
- Organisatorische Dimension: In Zeiten des Taylorismus herrschten die starr hierarchischen Organisationsformen mit klarer Linienführung und top down-Entscheidungslogik vor. Diese Art der Organisation weicht einer immer agileren, netzwerkartigen Aufbauorganisation, die auch Platz für (teil-)autonome Teams und „unkonventionelle“ bottom up-Entscheidungswege lässt.
- Politische Dimension: Diese Dimension bezieht schließlich die externe Politik mit ein, die die Rahmenbedingungen für Gesundheit, soziale Gerechtigkeit, Lohnniveau und Arbeitsschutz schneller den aktuellen Gegebenheiten anpassen muss. Diese Anforderung adressiert natürlich die politische Exekutive, namentlich die Bundesregierung und die Bundesministerien (insbesondere die Ministerien für Wirtschaft, Arbeit und Soziales, Justiz und Finanzen).
Markus Väth bloggt unter anderem zu New Work und hat in einem unterhaltsamen Artikel Ende Mai 2019 der deutschen Politik bescheinigt, dass auch New Work #neuland für sie ist.
Neue Definition New Work
In einer mir vorliegenden Bachelorarbeit (siehe Quellen) hat der Autor basierend auf einer qualitativen Expertenbefragung im Jahr 2019 eine – wie ich finde – gute neue Definition für Neue Arbeit entwickelt:
„New Work bezeichnet eine neue Form der Arbeit, welche die Selbstverwirklichung des Individuums im Arbeitsprozess in den Mittelpunkt stellt [!] und deren Ursprungsbezeichnung auf den Philosophen Frithjof Bergmann zurückgeht. Damit ist New Work ein Gegenbeispiel zur klassischen, linearen, hierarchischen Organisations- und Arbeitsform, in welcher der Mensch als Produktionsmittel wahrgenommen wird. New Work ist dabei mehr als nur Arbeitsweise, sondern hat Auswirkungen auf die Organisationsform. Dabei ist New Work aber keine einheitliche Denkschule, sondern kann in Bezug auf Arbeitsfelder, Miteinander und Arbeitsergebnisse – dabei sowohl auf deren Sinnhaftigkeit als auch auf deren gesellschaftlichen Mehrwert – individuell auf Unternehmen und Arbeitnehmer ausgerichtet sein.“
Exkurs: Industrielle Revolution(en)
Wir sind uns alle einig, dass der technologische Fortschritt einen Einfluss auf unser Verständnis von Arbeit hat. Immerhin tragen die meisten Arbeitnehmer*innen in Deutschland mit ihrem Smartphone auch 2019 noch einen schnelleren Computer in ihrer Hosentasche herum und nutzen barrierefreiere Angebote als das in ihrem Arbeits-PC möglich oder erlaubt wäre. In der Arbeitswelt wirft die Digitalisierung oder auch vierte industrielle Revolution ihre Schatten voraus. Ein kurzer Überblick über die industriellen Revolutionen:
- 1. industrielle Revolution: Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und Beginn der Urbanisierung hat vor allem Landarbeiter verdrängt, verabschiedet den Feudalismus als vorherrschendes Gesellschaftssystem. Beginn ab ca. 1780, Epizentrum: britische Baumwollindustrie.
- 2. industrielle Revolution: Die zunehmende Mechanisierung und Elektrifizierung bringt viele Fließbandarbeiter um ihre Jobs und festigt das kapitalistische Wirtschaftssystem. Beginn ab ca. 1870, prominentestes Beispiel ist die massenhafte Automobilfertigung von Henry Ford (USA) in den 1910er Jahren.
- 3. industrielle Revolution: Die mikroelektronische Revolution ersetzt einfache Hilfsarbeiten und setzt die ökonomische Globalisierung in Gang. Beginn in den 1970er Jahren mit dem Siegeszug der kommerziellen Computer und der ersten Industrieroboter – Sie ahnen, wo der Ursprung liegt. Richtig: Im Silicon Valley (auch USA).
- 4. industrielle Revolution: Neue Grundlagentechnologien sind in dieser Revolution nicht hinzugekommen, doch die Vernetzung durch das globale und vor allem zunehmend mobile Internet entfaltet seit den 2010er Jahren ihr Potential. Beginn: 2007 mit Einführung des iPhone und 2010 mit der Einführung des 3G-Standards für mobile Internetverbindungen, ausgehend von den USA, aber bald (fast) global verfügbar. Die Welt wächst zusammen. Aber: Nicht zuletzt aufgrund des von der deutschen Regierung geprägten Begriffs „Industrie 4.0“ wird die tatsächliche Existenz des Revolutionscharakters kontrovers diskutiert; manch eine*r spricht höchstens von einer zweiten Phase der 3. industriellen Revolution.
- Kurzer Ausblick: Spätestens mit dem bevorstehenden Durchbruch bei Quantencomputern sowie der künstlichen Intelligenz werden Digitalisierung und Globalisierung eine neue Stufe erreichen. Homo sapiens steht damit anthropologisch betrachtet auf einer neuen Grundlage (vgl. Yuval Noah Harari). Auch im Büroalltag wird es bald völlig normal sein, dass einige Kolleg*innen nur aus Programmcode bestehen; sie sind lernende Algorithmen, die im kommenden Jahrzehnt zunehmend Entscheidungen treffen werden. Das fängt bei einfachen Dingen wie Terminvereinbarungen an (vgl. Amy AI), macht aber auch vor heutigen Expertenaufgaben nicht Halt. Die Software von NDALynn oder Lawgeex prüft Verschwiegenheitsvereinbarungen (NDAs) schon heute präziser und viel schneller als Fachanwälte, die ihr Leben lang nichts anderes gemacht haben. Je mehr Entscheidungsgewalt auf die künstlichen Kollegen (Roboter bzw. Algorithmen) übertragen wird, je mehr diese in der Lage sind sich und ihre Interessen zu artikulieren, desto dringlicher wird auch der Bedarf nach rechtlichen Rahmenbedingungen und betrieblicher Mitbestimmung. In der Schweiz wurde im Dezember 2018 ein Roboter in die traditionsreiche Gewerkschaft „Verband Angestellte Schweiz“ aufgenommen, nachdem ein Robo-Kollege in Großbritannien entlassen wurde. Denn selbstverständlich machen die künstlichen Kollegen auch Fehler. Und als Korrektiv dafür muss aktuell noch das vorherrschende Rechtssystem herhalten; Unternehmen haften für ihre Kinder, äh, KIs. Dabei wird es immer komplizierter festzustellen, auf welcher Grundlage eine KI Entscheidungen trifft oder sich auf diese oder jene Weise verhalten hat. Bis zum Jahr 2030 werden die Kinderkrankheiten aber längst der Vergangenheit angehören. Die Auswirkungen auf menschliche Beschäftigte sind einerseits noch unklar, andererseits liegen sie vor allem in der Verantwortung der Arbeitgeber und der Politik.
Es gehört zweifelsohne zu den Charakteristika solcher Revolutionen, dass bestehende durch neue Handlungsmuster auf allen gesellschaftlichen Ebenen ersetzt werden. Ebenso gehört es zu den bitteren Wahrheiten, dass im kapitalistischen System das Leitmotiv „Gewinnmaximierung“ nicht immer zugunsten der Beschäftigten entscheidet. So gab es in allen industriellen Revolutionen vor allem Massenentlassungen („Rationalisierungen“) und zumindest in Europa historische Massendemonstrationen (bspw. den Weberaufstand 1844, Widerstände gegen die Eisenbahn im 19. Jahrhundert, Taxifahreraufstände 2019, bald Automobil-Zulieferer-Aufstand…). Genauso können wir es aktuell beobachten. Und es werden noch viele Meldungen über Massenentlassungen folgen, nicht zuletzt weil Arbeitgeber und Arbeitnehmerorganisationen sich aus nachvollziehbaren, aber unvernünftigen Gründen gegen „disruptive“ Technologien sperren.
Wir halten folgende Formel fest: Technologiesprung + Kapitalismus = industrielle Revolution.
Zurück zum Leitthema, oder eher: Leidthema?
Willkommen zurück im Jahr 2019.
Industrielle Revolution hin oder her, das dürfen die Historiker der nächsten Generation beurteilen. Die Arbeitswelt unterliegt einem Wandel, dieses Mal mischen aber noch mehr Faktoren mit. Neben Technologiesprüngen und dem Kapitalismus spielen für die Debatte um New Work zwei weitere wichtige Faktoren eine wichtige Rolle: demografischer Wandel und Wertewandel.
Demografischer Wandel
Der Begriff an sich ist eigentlich bescheuert. Demografie befindet sich immer im Wandel, jede Sekunde sogar. Im Volksmund wissen wir in den westlichen Industriestaaten aber alle, was damit gemeint ist: die bevorstehende Überalterung der Gesellschaft(en).
Woher kommt das? Die sehr geburtenstarken Nachkriegsgenerationen, auch Babyboomer genannt, stehen altersmäßig kurz vor dem Renten- bzw. Pensionsalter. (Was das für Unternehmensnachfolgen bedeuten wird, habe ich mal als Co-Autor einer wissenschaftlichen Zukunftsstudie untersucht.) Die Generation danach wird nicht ohne Grund auch „Pillenknick-Generation“ genannt: Nach der Markteinführung der Anti-Baby-Pille kamen signifikant weniger Menschen zur Welt, auch andere Verhütungsmittel und der offenere Diskurs über Schwangerschaftsverhütung sowie HIV-Prävention spielen in die Statistik. Das Phänomen hat bis heute Bestand.
Nicht zuletzt erlebten die westlichen Staaten in den 1950er Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung (goldene 50er) und paradoxerweise führt Wohlstand zu weniger Geburten, das gilt sogar in Entwicklungsländern wie Indien oder Bangladesch (an die Soziologen: natürlich ist das kein monokausaler Zusammenhang, ich weiß).
Jedenfalls sterben schon seit 1972 in Deutschland mehr Menschen als geboren werden, gleichzeitig werden die Alten älter. Nicht ohne Grund wurde die Sicherheit der Rente schon in den 1990er Jahren infragegestellt.
Die demografische Entwicklung führt damit geradewegs in eine Welt des Arbeits- und Fachkräftemangels sowie des Altersüberschusses. Kombinieren wir diese Einflussfaktoren, erkennen wir für das Thema New Work zwei zentrale Konsequenzen der Demografie:
- Der Wert menschlicher Arbeit nimmt zu. Es war noch nie so leicht für qualifizierte Fachkräfte, einen Job zu finden (persönliche Mobilität vorausgesetzt). Was für Informatiker und einige Ingenieursberufe seit einem guten Jahrzehnt gilt – regelmäßige Abwerbeversuche anderer Arbeitgeber zu immer besseren Konditionen – gilt für auch immer mehr Sozial- oder Geisteswissenschaftler*innen. Und natürlich für Mediziner*innen. Sie suchen sich ihren nächsten Arbeitgeber an dem Tag aus, wenn sie eine neue Stelle antreten. Fordern ein Sabbitical, mehr Urlaubstage, bessere Sozialleistungen und so weiter. Viele Unternehmen in westlichen Industriestaaten wiederum sind in einer Zeit des Fachkräfteüberflusses gewachsen. Sie wissen oft nicht, wie sie mit anderen Mitteln als ihrer Marke und einem sicheren Einkommen um Fachkräfte werben sollen, wenn überhaupt. Employer Branding kann man deshalb inzwischen studieren. Dazu gehört inzwischen mehr als kostenloses Wasser und Obst am Arbeitsplatz. Haben Sie schon mal über Wohnzuschüsse für die Eltern Ihrer Angestellten nachgedacht? Oder Subventionen für temporäre Expat-Office-Aufenthalte auf Bali? Oder demokratische Wahlen der Geschäftsführung?
- Wirtschaftlich agierende Organisationen, in der Regel Unternehmen, müssen Arbeitsprozesse automatisieren. Dieser Befund ist heutzutage einer der zentralen Treiber für technologische Innovation, denn wenn ein Unternehmen keine Arbeitskräfte mehr durch die besten Employer Branding-Strategien findet, muss es neue Wege finden, den Profit zu maximieren. Nach einer Prognos-Studie fehlen 2030 drei Millionen Fachkräfte. Fachkräfte! Nicht „nur“ Arbeitskräfte. Damit gemeint sind lediglich die Spezialist*innen bzw. Expert*innen! Und heute stehen die Züge der Deutschen Bahn schon regelmäßig still, weil das Personal für die Stellwerke oder Loks fehlt. Dabei weiß ich aus sicherer Quelle, dass gerade der DB-Konzern recht früh damit angefangen hat, Gegenmaßnahmen zu ergreifen…
Wertewandel: Generation X, Generation Y, Generationsbrei…
Danke, Prof. Dr. Martin Schröder!
Im Oktober 2018 stieß ich auf seinen Beitrag in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (drauf gestoßen hat mich Spiegel Online). Endlich gibt es empirische Ergebnisse, die die gängigen Annahmen über „Generation X“, „Generation Y“, „Generation Z“ etc. widerlegen. Natürlich gibt es einen sich wandelnden Zeitgeist, natürlich wird ein Wertewandel durch Generationenwechsel beschleunigt. Und natürlich ist die Jugend verroht und respektlos, das wusste schon Sokrates. Aber es ist falsch zu behaupten, dass eine Geburtenkohorte in sich gefestigt über diese oder jene (insgesamt homogene) Wertvorstellungen verfügt oder Entscheidungen immer auf dieselbe Weise trifft. Nun endlich auch wissenschaftlich belegt.
Der gesellschaftliche Wertewandel vollzieht sich also dynamisch und relativ unabhängig vom Geburtsjahr, sondern orientiert an der aktuellen gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Gesamtsituation. Meiner Generation werden beispielsweise eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne und postmaterielle Ideale zugeschrieben – das erklärt noch lange keine Inflation von Achtsamkeitstrainings und die Absatzzahlen von Tablets bei über 45-Jährigen.
Was wir aber sehr wohl festhalten können ist ein steigender Drang zur Subjektivierung, auch Individualismus genannt. Parallel vollzieht sich ein Bruch mit dem Determinismus, sprich der Weltanschauung, dass ein oder mehrere göttliche(r) Schöpfer das Schicksal jedes Lebewesens bestimmt/bestimmen. Immer mehr Menschen nehmen ihre Lebensläufe selbst in die Hand, gehen – besonders in Sozialstaaten – höhere Risiken ein, sehen Arbeit nicht mehr als das zentrale Element ihres Lebens. Immerhin will man ja was erleben! Schließlich erfreuen wir uns einer steigenden Gleichberechtigung der Geschlechter, Kulturen, Religionen und weiteren Kategorien. (Über die weiteren, spannenden Auswüchse des Wertewandels schreibe ich vielleicht mal an anderer Stelle etwas, aber das war’s im Wesentlichen für das Thema New Work.)
Konkrete Folgen für den Arbeitsmarkt:
- Immer weniger Menschen hegen den Wunsch, ihr Erwerbsleben bei nur einem Arbeitgeber zu verbringen.
- Immer mehr sehen lebenslanges Lernen mit teils obskuren Richtungswechseln als Erfüllung.
- Immer mehr Menschen sind beruflich Selbstständige (Statistik, mehr Startups. auch mehr Gründungen durch Ältere) oder fristen als Freiberufler ihr flexibles Dasein.
- Immer mehr Frauen rücken in Führungspositionen oder gründen Unternehmen – dasselbe gilt für homo-, trans- und intersexuelle Menschen sowie Menschen mit Migrationshintergrund. Langsam, aber immerhin.
Mini-Fazit Demografie und Wertewandel
Die Arbeitswelt unterliegt erheblichen exogenen und endogenen Treibern der Veränderung. Wer noch nicht angefangen hat, sich mit New Work zu beschäftigen, sollte genau jetzt starten. Aber Sie lesen diese Zeilen vermutlich aus dem Grund, weil Sie schon im Thema stecken… das ewige Paradoxon setzt sich fort. Wenn Sie jemanden kennen, der mit New Work noch nichts verbindet – nutzen Sie bitte die Teilen-Funktion dieses Beitrags für Xing, Linkedin, Mail oder ein Format Ihrer Wahl. Danke! Und jetzt: weiter im Text.
Zwischenfazit: Warum New Work? Warum jetzt?
Erwerbsarbeit, ein historisch relativ junges Konstrukt, unterliegt großen Umschwüngen. Dieser stetige Wandel wurde bislang vor allem durch technologische und politische Umwälzungen angestoßen. Die stärksten derzeit wirkenden Einflüsse bzw. Trends lauten:
- Die Digitalisierung entfaltet so langsam ihr volles Potential. Gemeint ist nicht bloß die Elektrifizierung und Automatisierung vormals mechanischer (Arbeits-)Prozesse. Die Vernetzung der wachsenden Weltgemeinschaft (Globalisierung 2.0) und des globalen Arbeitsmarkts hat erst vor wenigen Jahren eingesetzt.
- Der demografische Wandel zwingt Arbeitgeber in die Situation, automatisieren zu müssen. Arbeitnehmer profitieren von der Überalterung der Gesellschaft, sodass immer mehr Qualifikationen oder Professionen unter Hochdruck gesucht werden – und Beschäftigte sich immer mehr ganz mündig und selbstbestimmt ihre Erwerbsbiographie stricken.
- Der Wertewandel in liberalen, demokratischen Staaten ermöglicht die aktive Teilhabe vormals unterdrückter Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig werden die Bedingungen für die berufliche Selbstverwirklichung immer günstiger.Schließlich zeigt die relative Reife der New Work-Diskussion, dass wir weit davon entfernt sind, eine einheitliche Definition für Neue Arbeit zu entwickeln. Es sind allenfalls Stoßrichtungen der Transformation; das Ergebnis wird bei jeder Organisation anders aussehen.
Was bedeutet New Work für Organisation und Management?
Selbstverständlich stehen wir noch am Beginn der Transformation. Oder stecken mittendrin. Das hängt von Ihrem Standpunkt und der Rhetorik ab. Wichtig ist, dass New Work per Definition kein abschließbarer Prozess sein kann – kein Change-Prozess mit einem konkreten Ziel.
Mindset shifts for organization transformation (new work)Aaron Sachs und Anupam Kundu haben eine schöne bildliche Darstellung entwickelt, die die fundamentalen Richtungswechsel darstellt. Ich versuche mich auch in meinen Keynotes immer mal gern an einer Erläuterung. Nun auch hier:
- Unternehmenszweck: Natürlich müssen Unternehmen Gewinn (profit) erwirtschaften. In Wirklichkeit müssen sie sich aber viel stärker an einem Sinn (purpose) orientieren – das macht übrigens auch die Personalarbeit leichter. Im nächsten Schritt wird die strikte Formulierung von Prozessen weniger benötigt, da jede*r einzelne Mitarbeiter*in den Sinn so sehr verinnerlicht hat, dass das Ziel mit eigenen Mitteln erreicht werden kann. Oft auch unkonventionell, eben individuell auf die Bedürfnisse und Stärken der Persönlichkeit zugeschnitten.
- Aufbauorganisation: Verabschieden Sie sich von starren Hierarchien und machen Platz für Netzwerke. Agile Projektteams, in denen auch mal die Geschäftsführung als einfache Teamplayer einer Projektleiterin unterstellt sind – kein Novum mehr in Unternehmen an der Spitze der New Work-Bewegung. Eine Kienbaum-/StepStone-Studie hat 2017 nachgewiesen, dass mit steigender Durchlässigkeit der Hierarchieebenen der Unternehmenserfolg messbar steigt (von funktional über Matrix über gar keine Abteilungen zu divisional und schließlich agil).
- Personalführung: Gemäß dem tayloristischen System müssen Führungskräfte ihre Angestellten eng führen und kontrollieren, weil sie ja schließlich selbst nicht in der Lage sind, eigenständig zu handeln. Überprüfen Sie gern mal Ihr Prozesswerk, das haargenau diese und jene Schritte für die einfachsten Tätigkeiten festlegt – dadurch wird Menschen das eigenständige Denken abgewöhnt. Viel wichtiger ist in der Neuen Arbeitswelt die Befähigung (empowering) der Beschäftigten: durch eine offene, faire Feedback-Kultur, intrinsische Anreize, eine gesunde Fehlerkultur und Zugeständnisse bei Entscheidungswegen.
- Produktentwicklung: Die deutsche Innovationskultur zeichnet sich durch einen perfektionistischen Tüftlerdrang aus. Die Metapher ist der schwäbische Tüftler, der in seiner Garage eine Idee jahrelang bis zum perfekten, marktfähigen Produkt entwickelt – zwischendurch ein Patent anmeldet und ein Marktforschungsinstitut mit einer repräsentativen Studie seiner Zielgruppe beauftragt. Bei immer kürzer werdenden Innovationszyklen auf immer diffuseren Märkten kann diese Taktik nicht mehr funktionieren. An der Stelle müssen sich Erfinder*innen und Entwickler*innen eine Scheibe aus dem Silicon Valley abschneiden und mehr experimentieren. Und zwar in der Realität. Ein Prototyp bzw. Pretotyp (oder auch MVP, minimum viable product) ist egal für welche Idee (ausgenommen vielleicht Hochsicherheitslösungen) schnell entwickelt, wird dann an eine begrenzte Testgruppe herangeführt, um Feedback zu erhalten, dieses anschließend umzusetzen und mit einer überarbeiteten Fassung erneut an die Öffentlichkeit zu gehen. Selbst die ersten Fahrzeuge von Tesla verfolgten dieses Ziel; in den Fahrzeugen war so viel unfunktionale Sensorik verbaut, die nur dem Zweck diente, Daten über das Nutzungsverhalten zu sammeln und mit einer massiven Support-Offensive die oft noch unzufriedenen, oft unbewussten Test-Fahrer bei Laune zu halten.
- Daten: Das leidige Thema Datenschutz und Betriebsgeheimnisse. Die „alte Welt“ funktioniert nach strikten Wettbewerbsregeln, in denen Unternehmen ihre interne Entwicklung hermetisch abschirmten. Wieder bemühe ich die steigende Innovationsgeschwindigkeit als Gegenargument: in einer globalisierten Welt können Sie sich sicher sein, dass ein*e Entwickler*in irgendwo auf dem Globus exakt dieselbe Idee schon mal gedacht hat wir Ihr Entwicklerteam. Ideen wachsen nur durch Diskurs und Experimente. Besonders in heterogenen Gruppen gedeihen diese umso besser – eine Erklärung für die wachsende Anzahl teils brancheninterner Allianzen, wie zwischen BMW und Daimler oder Kooperationen zwischen TÜV NORD und TÜV SÜD, die ich leiten durfte. Darüber hinaus findet immer mehr Ideen- und Innovationsaustausch auf oft noch informellen Treffen statt, während andernorts Innovativität noch an der Anzahl der angemeldeten Patente gemessen wird. Wenn die Anmeldung eines Patents ca. zwei Jahre dauert, der Konkurrent dieselbe Lösung aber zwischendurch auf den Markt bringt, nützt dem besten Erfinder das Postkartenformat im Hausflur genau gar nichts.
Schlussstrich und Ausblick: Digitalisierung führt zu New Work
Der Druck auf den Arbeitsmarkt ist groß. Digitalisierung, Demografie, Arbeitnehmerbewusstsein, Globalisierung… Im Ergebnis erwarten Optimisten, dass die Neue Arbeit keine Umstellung für den einzelnen Menschen sein wird, sondern viel enger auf die Bedürfnisse abgestellt ist. Flexible Arbeitszeiten und -orte (wie Homeoffice), BYOD (bring your own device), interessen- und stärkenbasierte Einsatzzwecke und vieles mehr. In ein paar Jahrzehnten werden sich Historiker über unsere Epoche der tayloristischen Erwerbsarbeit und Aufbauorganisation mit einer ähnlichen Distanz und Unverständlichkeit äußern wie wir heute über Sklaventum oder Feudalismus urteilen.
Es gibt viel zu tun. Packen wir es an! … und wenn Sie Unterstützung bei der Umsetzung oder Inspiration für Ihre Mitarbeiter (oder Vorgesetzten) wünschen: kontaktieren Sie mich.
Ausgewählte Quellen
Dittrich, Bob (2019): New Work. Eine qualitative Expertenbefragung (Bachelorarbeit, unveröffentlicht).
Eilers, Frank (laufend): Arbeitsphilosophen Podcast: https://www.einfach-eilers.com/arbeitsphilosophen.
Mason, Paul (2015): Postkapitalismus.
Schröder, Martin (2018): Der Generationenmythos. Online.
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Die Renaissance des Verbrennungsmotors
„Totgeglaubte leben länger“, hat bestimmt mal Albert Einstein oder Mark Twain gesagt. Die Liste der dafür empirisch zur Untermauerung genannter Beispiele wird sich möglicherweise schon bald um einen Kandidaten erweitern, mit dem nun wirklich gerade niemand rechnet: der Verbrennungsmotor.
Elektromobilität ist die neue Religion
Alle Welt und Massenmedien prescht in puncto Antriebstechnologie bzw. Treibstoffe für Autos und andere Fahrzeuge gerade in Richtung E. E ist wie eine neue Religion. E spaltet die Geister, die politischen Lager, die Konzernwelten und das aus vielen Gründen. Diejenigen, die den Markt der E-Mobilität dominieren, haben die etablierte Industrie überrannt. Gefühlt über Nacht brachte Tesla ein fast alltagstaugliches Elektroauto auf den Markt (Roadster), dann ein relativ teures, wirklich alltagstaugliches (S), dann eins zu akzeptablem Preis (3)*, nicht zu vergessen einen SUV (X).
Die Arroganz der etablierten Automobilindustrie wird ihr gerade zum Verhängnis, der öffentliche Kampf gegen E-Autos wurde beigelegt und nun bauen auch sie E-Modelle, manche mehr, manche weniger. Es sei eine „Zukunftstechnologie“ (was für ein Quatsch, die allerersten Autos waren auch elektrisch betrieben), außerdem müsse man sich angesichts der immer schärferen CO2-Auflagen für Automobilbauer darum bemühen, im Durchschnitt weniger Dreck zu emittieren. Deshalb gibt es ja auch bald den E-Smart, damit die Luxuslimousinen desselben Konzerns weiterhin 600 PS mit Diesel- oder Benzinmotoren über die Bundesstraßen jagen können.
Auf der anderen Seite die ausdauernden E-Skeptiker. Lithium-Ionen Batterien, so ihr Plädoyer, mögen zwar mit Inbetriebnahme weniger CO2-Emissionen generieren. Aber für die Herstellung müssen große Mengen sogenannter Blut-Rohstoffe wie Cobalt oder, wie der Name ahnen lässt, Lithium abgebaut werden. Die sind vor allem dort vorhanden, wo Gesundheits- und Arbeitsrechtsstandards reine Theorie sind. Und vielleicht in Sachsen. Außerdem werden große Energiemengen benötigt, um überhaupt eine Batterie herzustellen – was überwiegend noch aus fossilen Quellen befeuert wird. Und dann ist es außerdem so, dass Batterien mit einer sinnvollen Kapazität für mehrere 100km Antrieb eines Autos ein stattliches Gewicht auf die Waage bringen. Deshalb produziert man einen guten Teil der Batterie nur dazu, sich selbst zu bewegen – irgendwie paradox. Unterm Strich, haben kluge Menschen errechnet, dass ein Elektroauto wie der Tesla Model S erst nach 80-100.000 gefahrenen Kilometern wirklich klimapositiv fährt.
Es klingt immer blöd, aber: Zukunftsforscher wissen längst, dass die Zukunft der Branche nicht von Elektromotoren dominiert sein wird. Natürlich lässt es sich nicht mehr verhindern, dass ein gewisser Anteil der Personenfahrzeuge im Jahr 2030 elektrisch angetrieben werden (ich schätze irgendwo zwischen 15 und 25 Prozent). Aber bei all dem Schaumschlagen um die batteriebetriebenen Fahrzeuge schlüpfen ein paar spannende technologische Entwicklungen aus den Kinderschuhen, um die E-Revolution anzugreifen.
Die Revolution der Revolution der Mobilität
Wie verrückt erscheint Ihnen die Vorstellung, CO2 aus der Atmosphäre zu extrahieren, mit Wasserstoff chemisch zu verheiraten und daraus einen flüssigen Treibstoff herzustellen, der in üblichen Verbrennungsmotoren Schub erzeugt? Oder wenn wir giftige Nebenprodukte der Chemieindustrie wie LOHC mit einem ähnlichen Ziel nachnutzen könnten? Genau das passiert gerade. Ich habe im obigen Absatz bewusst nur zwei Quellen verlinkt, es arbeiten diverse Akteure aus unterschiedlichsten Industrien (darunter auch Audi) rund um den Globus daran, die vorhandenen Autos mit Verbrennungsmotor vor dem Exitus zu retten.
Ich wundere mich immer wieder über die Starrköpfigkeit der Öffentlichkeit oder auch Politik, solche Entwicklungen zu ignorieren. Man streitet lieber noch über das böse Cobalt und hackt übel gelaunt Tweets in sein Smartphone (, welches nebenbei bemerkt auch aus einer Menge Blutrohstoffe von oft suizidalen Arbeitern der Zu-zu-zulieferer der schillernden Marken zusammengeklöppelt wurde). Augen auf, liebe Leute: Die Revolution der Revolution hat längst begonnen.
Fazit: Der Verbrennungsmotor ist nicht tot, nur das Verbrennen fossiler Energieträger. Das Wettrennen der Lobbyisten um Fördergelder für entweder Elektromobilität oder die Rehabilitation des Verbrenners dürfte in vollem Gange sein.
PS: Der Vollständigkeit halber: ich fokussiere in diesem kurzen Beitrag bewusst nur auf „herkömmliche“ Elektromotoren vs. Verbrenner, alle anderen Konzepte (von Wasserstoff-Hybrid über Ionenantrieb bis Thorium) klammere ich mal aus. Ergänzungen bitte ins Kommentarfeld ????
*Funny fact: Das Model 3 sollte ursprünglich Model E heißen, was aber von der Konkurrenz markenrechtlich gerichtlich verboten wurde. Aber auch mit S, 3 und X funktioniert der Guckwitz von Elon Musk’s heißem E-Auto-Trio. Wir dürfen gespannt sein, ob er es mit einem Model Y zu einem Vierer verwandelt (Spekulation basierend auf der Biographie von Elon Musk).
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Einzelhandel / Retail der Zukunft
Sterben die Innenstädte bald aus? Nein. Geht künftig überhaupt noch jemand in der Fußgängerzone bummeln, wenn wir doch bequem von der Couch aus sämtliche Konsum-Bedarfe auf unserem Tablet online bzw. mobil bestellen und uns Drohnen beliefern? Wahrscheinlich ja. Ein Plädoyer für Augenmaß bei Trend-Debatten.
Retail 2019: Status Quo des Handels
Der deutsche Einzelhandel steht unter Druck. Die Umsätze steigen zwar voraussichtlich auch 2019 weiter an, doch besonders Kleinstädte und ländliche Regionen werden zunehmend zum „Opfer der Digitalisierung“, wie das Handelsblatt Anfang Januar titelte. Immer mehr E-Commerce und M-Commerce (mobiles Shopping) bedrängen die kleinen Händler, die sich ohnmächtig fühlen. Immer mehr Bestellungen werden über Sprachassistenten wie Amazons Alexa, Apples Siri, Microsofts Cortana, Googles bzw. Alphabets Home oder Samsungs Bixbi aufgegeben – und das bald schon ohne Zutun der Menschen, wenn es nach Unternehmen wie Gupshup geht. Immer mehr Händler fühlen sich ohnmächtig im Angesicht einer wachsenden Marktmarkt der Retail-Goliaths Amazon, Alibaba, H&M und Co.
Walmart hat kürzlich angekündigt, seinen US-Kunden die Lebensmittelbestellungen künftig bis in den Kühlschrank zu liefern. Andere Händler übertrumpfen sich gegenseitig dabei, jegliche Bestellungen vor die Haustür zu bringen – in immer kürzerer Zeit. So möchte Amazon mithilfe des neuen hauseigenen Drohnen-Lieferdienstes Prime Air innerhalb von 30 Minuten Kunden in Großstädten mit ihren Kleinbestellungen bis zu 2,3 kg versorgen (innerhalb eines Radius‘ von 24 Kilometern bis zum nächsten Lager). Dabei ist Amazon seinerzeit zum weltgrößten Handelsunternehmen aufgestiegen, viele Jahre ohne eigene Lager zu besitzen.
Ist das alles Digitalisierung? Absolut. Einer der zentralen Mechanismen der Digitalisierung ist die Plattform-Ökonomie, welche die Grundlage für den Erfolg von Amazon, Facebook, Netflix, Uber, Airbnb etc. bildet. Der Mechanismus lautet: Wenn du eine Software schreiben kannst, die bestehende Infrastruktur und technische Geräte zu deinen Gunsten besser organisiert als das bisherige, analoge System, dann suche dir rechtzeitig einen guten Vermögensverwalter.
Scheinbar ausweglos? Nein! Es ist noch nicht alles verloren.
Ich kenne die Situation im Einzelhandel ganz gut, nicht zuletzt aus biographischen Gründen. Ich stamme aus einer Stadt, die den Niedergang der Fußgängerzone in den letzten 20 Jahren live miterlebt hat. Aus Beratungsprojekten der vergangenen Jahre und Dutzenden Gesprächen mit Insidern kenne ich die Themen, die dem deutschen Retail-Segment Sorgen bereiten. Mit diesem Beitrag lade ich Sie ein, die Situation von Grunde auf neu zu bewerten. Los geht’s mit einem…
Perspektivwechsel: Blickpunkt China
Im Herbst 2018 bin ich im Zusammenhang mit einem Studienprojekt bei meinem alten Arbeitgeber nach China gereist. Dort habe ich mich mit einigen Unternehmer*innen in Shanghai und Peking unterhalten, um dem Mythos auf den Grund zu gehen, dass China uns in puncto Technologie längst überholt hat. Die kurze Antwort auf diesen Mythos lautet: Nein, aber ja. Nein, ein fundamentaler Vorsprung lässt sich nicht attestieren. Aber ja, in China verlassen jedes Jahr grob geschätzt so viele Informatikstudierende die Hochschulen wie hier überhaupt für alle Fächer eingeschrieben sind. Noch ist es nicht soweit, aber es besteht ausreichend Grund, hierzulande alles in Bewegung zu setzen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Schließlich wollen wir doch nicht wie bei der MP3 oder dem Automobil im Nachhinein Vordenker auf diversen Gebieten sein, aber anderen den ökonomischen Erfolg überlassen. Oder?
Zurück zum Reisebericht. Besonders lehrreich war für mich auf meiner ersten Chinareise ein ganzer Tag mit Jingdong (JD.COM). Nach eigenen Angaben hat der Konzern im letzten Jahr mehr Waren verkauft als Alibaba, welches im Rest der Welt deutlich bekannter ist, und ist damit zum landesweit größten Online- und Offline-Händler des Landes aufgestiegen. Die Firmenzentrale in Peking ist zunächst unscheinbar und nur das Maskottchen – der weiße Hund – deutet daraufhin, dass in dem verglasten Gebäude keine Bank oder eine gewöhnliche Behörde ihren Hauptsitz hat. Zuvor haben wir mit der lustigen, heterogenen Reisegruppe schon ein paar Stationen in Peking erkundet, haben in einem Jingdong Restaurant-Supermarkt (7FRESH) zu Mittag gegessen und Blockchain-vernetzte Fische in den Aquarien bestaunt. Außerdem durften wir das personalfreie Popup-Geschäft im Erdgeschoss ausprobieren, in dem kein Kassierer sitzt . Hier loggen sich die Kunden beim Eintreten in den Markt mit ihrem Smartphone ein und erhalten einen einmaligen Code aufs Telefon. Kameras und RFID-Chips senden automatisch die vom Kunden ausgewählten an diesen Code, sodass die Software beim Verlassen des Geschäfts automatisch den fälligen Betrag vom Konto des Kunden einzieht. In China gibt es keine Gewerkschaft, die dagegen sein könnte, also wird es einfach gemacht.
In dem Jingdong Hauptquartier habe ich dann also im Rahmen einer kleinen Pressekonferenz einige leitende Mitarbeiter getroffen, darunter auch Chen Zhang, damals noch Chief Technology Officer – also Chef-Ingenieur – von Jingdong. Zhang bringt viele Jahre Erfahrung aus dem Silicon Valley mit und hat in seiner Zeit bei JD.COM das mindset des chinesischen Konzerns maßgeblich geprägt und ungewöhnliche Ideen vorangetrieben. Jingdong konnte nur derart erfolgreich werden, weil die Unternehmensführung früh begriffen hat, dass reiner Handel kein skalierbares Geschäftsmodell ist. Die Margen sind begrenzt und je länger eine Wertschöpfungskette ist, desto weniger Gewinn bleibt am Ende für jedes Glied. Deshalb ist Jingdong ebenso wie die G-MAFIA (Google, Microsoft, Amazon, Facebook, IBM, Apple) zu einem Technologieunternehmen geworden. Ohne Datenauswertung (Big Data bzw. Predictive Enterprise) lässt sich heute kein Sortiment mehr optimieren, keine Lagerdisposition organisieren, kein Transport über tausende Kilometer realisieren – schon gar nicht in einem Markt mit potentiell 1,3 Milliarden Kunden wie in China. Jingdong hat deshalb auch eine eigene Logistikinfrastruktur durchs gesamte Land aus dem Boden gestanzt und testet fleißig autonome Fahrzeuge in der International Auto City in Shanghai (nebst Volkswagen, Ford und Co.).
Neben den üblichen Themen der Retailer – Drohnenlieferungen, Blockchains zur Nachverfolgung der Waren vom Erzeuger bis zum Point of Sale, Lagerautomatisierung, personalfreier Einzelhandel – hat mich ein Thema aus Zhangs Erzählungen besonders fasziniert: Retail as a Service. Das Konzept war mir zwar nicht neu, aber ich habe es zugegebenermaßen vorher nicht vollständig verstanden – nicht zuletzt da es noch keine ernsthafte Umsetzung gab.
Was steckt also hinter Retail as a Service (RaaS)? Ich versuche mich an einer knackigen Erklärung, ohne Gefahr zu laufen, Werbung für Jingdong zu machen. Ein Handelsunternehmen, welches in einer geografischen Region über viel datenbasiertes Knowhow verfügt, kooperiert mit kleinen Händlern. Ende der Geschichte.
Retail as a Service: Fiktive Geschichte einer Implementierung
Konkret kann RaaS folgendermaßen aussehen. Stellen Sie sich vor, Sie betreiben ein Spielwarengeschäft in der Lüneburger Fußgängerzone. Sie spüren seit Jahren, dass immer weniger Kunden zu Ihnen ins Geschäft kommen. Und dann gibt es immer wieder solche, die sich lang und breit von Ihnen beraten lassen und nach einem netten, informativen Gespräch mit folgenden Worten Ihr Geschäft verlassen: „Vielen Dank, ich denke nochmal darüber nach.“ Sie ahnen schon, dass Sie die Kundin erstmal nicht wiedersehen werden, dass sie lieber online bestellt und damit vielleicht ein paar Euro spart, und Sie fühlen sich ausgenutzt. Immerhin haben Sie die Kundin doch beraten und da ist ein kleiner Preisaufschlag doch gerechtfertigt! Ist er auch, doch viele Kunden entscheiden letztlich grundlegend rational. Und die Währung für diese Entscheidung ist der Preis. Dass Sie beide Zeit für das Gespräch investiert haben, dass Sie Miete für Ihr Geschäft zahlen und vielleicht sogar besonderen Wert auf gut ausgebildetes Beratungspersonal legen, juckt den Geldbeutel der wenigsten Kunden. Doch es ist Rettung in Sicht: Unternehmen wie Jingdong erkennen gerade den fragmentierten Markt der kleinen Händler immer mehr als attraktive Partner im RaaS-Sinne. Und das läuft dann so ab.
Ein großes Technologie- und Handelsunternehmen wendet sich an Sie als Inhaber unseres Spielwarengeschäfts, wahrscheinlich via E-Mail. Der große Händler, nennen wir ihn ABC AG, verblüfft Sie zunächst mit einigen Erkenntnissen über Ihre Kunden ohne jemals Ihren Laden oder Lüneburg oder Niedersachsen betreten zu haben. Außerdem kennt er Ihr Sortiment einigermaßen genau und wird schon in einem ersten Gespräch Optimierungsvorschläge nennen, welche Produkte oder Dienstleistungen gerade bei Ihren Zielkunden angesagt sind. Schließlich wird die ABC AG Ihnen ein Angebot machen, über das Sie sicher erst eine Nacht schlafen müssen: Die ABC AG steigt als stiller Beteiliger in Ihrem Unternehmen ein und hilft Ihnen dabei, die lange fälligen Renovierungs- und Modernisierungsarbeiten an Ihrer Ladenfläche zu realisieren.
Nehmen wir an, Sie entscheiden sich für die Kooperation. Dann geht alles ganz schnell. Neben einer Verjüngungskur für Einrichtung und Innengestaltung installiert Ihr neuer Partner ein paar Kameras im Eingangsbereich, die fortan alle Kunden, die damit einverstanden sind, per Gesichtserkennung identifizieren und durch einen Abgleich mit Ihrem Kundenregister (CRM) einsortieren. An kleinen und großen digitalen Bildschirmen in Ihrem Geschäft werden die auf diese Weise erkannten Kunden mit individualisierten Produktvorschlägen und personalisierten Sonderangeboten gelockt. Nimmt ein Kunde ein Produkt aus dem realen Regal, werden zudem auf Wunsch auf einem Monitor in der Nähe Informationen über die Herkunft, Haut(un)verträglichkeiten, Anwendungsmöglichkeiten etc. angezeigt – möglich machen es RFID- oder NFC-Chips an den Produkten und Verpackungen. Die digitalen Preisschilder synchronisieren sich laufend mit den Preisen auf der Online-Plattform der ABC AG, sodass der Kunde überhaupt kein Argument hat, jetzt nicht sofort in Ihrem Geschäft Umsatz zu generieren – andernfalls weiß die ABC AG auch genau, dass exakt dieser Kunde bei Ihnen im Geschäft war und Sie erhalten umgekehrt dennoch eine Verkaufsprovision, wenn der Kunde doch lieber von zuhause aus bestellt.
Zusätzlich bieten Sie natürlich die Möglichkeit an, Ihren Kunden die eingekaufte Ware aus Ihrem Geschäft nach Hause zu liefern; dafür sorgt das durch die ABC AG betriebene, hochgradig automatisierte Logistiknetz mit fliegenden und fahrenden Drohnen. Und letztlich bieten Sie neuerdings nicht mehr nur Spielwaren an, sondern auch einige Artikel und Dienstleistungen, die Ihre Zielgruppe außerdem interessant findet. Wenn wir davon ausgehen, dass Ihr Endkunde in der Regel Kinder und Jugendliche sind, zusätzlich zu diesen aber auch deren erwachsene Verwandte bei Ihnen im Geschäft stehen, könnten diese zusätzlichen Artikel vielleicht die letzten SPIEGEL Bestseller, Küchengeräte oder Gartenmöbel sein. Das wird die ABC AG auf jeden Fall wissen, denn sie weiß sehr viel über diese Menschen, die Ihren Laden betreten – und welche Bedürfnisse sie außerhalb dieses Geschäfts haben. Und das Beste: Sie verfügt über exakt diese Waren und stattet Ihr Geschäft in einer kleinen, dedizierten Motto-Ecke damit aus. Das Sortiment in diesem Bereich wechselt selbstverständlich regelmäßig, immerhin braucht kein Mensch im tiefsten Winter einen Liegestuhl für die Veranda.
Last but not least: Bezahlsysteme / Payment. Ich habe oft das Gefühl, dass alternative Bezahlsysteme hierzulande noch wie Magie anmuten. Am liebsten zahlen die Deutschen noch mit Bargeld, erst 2018 wurde mehr Geld überwiesen als überreicht. Damit sind wir in Bezug auf das Geld bestenfalls konservativ. Einige Händler und Gastronomen rudern sogar wieder zurück, da sie die Gebühren der Kreditkartenunternehmen nicht übernehmen möchten. Dass dieses Argument fahrlässig kurz gedacht ist, weiß jeder, der schon einmal das Lokal gewechselt hat, weil er oder sie nicht mit Kreditkarte zahlen konnte. Umgekehrt ist es ein Leichtes für Händler oder Gastronomen, bestimmte Preise im Sortiment zu heben und somit die Gebühren zu amortisieren. Noch besser, man macht sich unabhängig von den Kreditkartenunternehmen und akzeptiert Paypal, Apple Pay oder Google Pay. Warum Geräte anschaffen, wenn die Kunden ihre Bank in der Hosentasche mit sich herumtragen? Sicherlich müssen sowohl Personal als auch Kunden in der Anfangsphase geschult werden. Doch Ihre Buchhaltung und Steuerberater werden es Ihnen danken, wenn sie keine verklebten Bons mehr Wochen nach Beleg entziffern müssen.
Lohnt sich der Blick nach China? Nun, das liegt ganz an Ihnen. Chen Zhang hat im Gespräch Oktober 2018 angekündigt, dass Jingdong die Expansion ins restliche Asien ab 2019 anschieben wird. Ebenfalls 2019 wird man sich in ersten europäischen Ländern breit machen, darunter auch Deutschland, erste Schritte wurden bereits gegangen. Alibaba übrigens auch. Ob Sie wollen oder nicht, früher oder später wird dieses Thema Sie beschäftigen. Aber verfallen Sie bitte nicht in Angststarre oder kategorische Ablehnung; es geht hier um existenzielle Veränderungen, so hart es klingen mag. Existenziell bedeutet aber auch, dass es zwei Seiten geben wird. Diejenige, die sich den veränderten Rahmenbedingungen erfolgreich anpassen kann und die andere. Das ist eine fast banale Erkenntnis über die Evolution der Ökonomie.
Schön, aber was wird nun aus den Innenstädten?
Richtig, fast vergessen. In der Einleitung habe ich ein Plädoyer angekündigt und zwischendurch viel über Trends aus aller Welt berichtet. Seit Jahrzehnten prophezeien Trendforscher das Aussterben der Fußgängerzonen und folglich der Innenstädte. Ganz Unrecht hatten sie damit nicht. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass dystopische Aussagen meiner Vorgänger*innen oft auch genau dahin führen, wo sich viele Menschen schließlich ihrem Schicksal hingeben: zur Lethargie, dem Veränderungs-Widerstand, der Angststarre. Besonders kommunale Einrichtungen wie städtische Stellen für Stadtentwicklung, Gewerkschaften oder Kammern haben jahrelang zu wenig gegen die Insolvenzwelle besonders der kleinen Händler*innen getan. Umgekehrt haben sie vielleicht zu wenig getan, um ebendiese zu fördern und zu unterstützen bei einer innovativen Restaurierung des Kerns ihrer Kommunen. Digitalisierung ist kein Ein-Mensch-Projekt.
Mein Plädoyer für mehr Augenmaß bei Trend-Debatten geht also so:
Glauben Sie keinem Trend und dessen Jüngern, die behaupten, Ihr Umfeld würde sich praktisch über Nacht diametral verändern. Technologisch könnten wir sicher schon ganz woanders stehen – doch es gibt eben auch soziale, politische und ökonomische Zwänge, die der Technologie Einhalt gebieten. Und das ist nicht gut oder schlecht, das ist so, wie es ist.
Ob als politische Entscheider oder Geschäftsführer*in eines (kleinen) Betriebs: Wagen Sie den Schritt aus der Komfortzone, gehen Sie unkonventionelle Wege dabei, finden Sie alternative Finanzierungskonzepte Ihrer Ideen und Mitstreiter*innen, um Ihre Utopie zur Realität zu machen. Die Städte, denen dies gelingt, werden nicht aussterben. Alles, was Sie dazu brauchen, ist ein präzises Verständnis Ihrer Zielgruppe und deren wirklichen Bedürfnisse – und die sind und bleiben maßgeblich bestimmt durch deren Erbgut. Ich möchte wetten, dass jedes Einzelhandelsgeschäft mit geeigneten Mitteln „überleben“ kann; doch ohne Veränderung des eigenen Geschäftsmodells wird das nichts.
Bei der Entwicklung von Ideen für Ihr neues Geschäftsmodell bin ich gern behilflich – als Workshop-Moderator oder Impulsgeber bei Ihrer Veranstaltung. Schreiben Sie mir gern!
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Tod dem Individualverkehr! Es lebe der Individualverkehr!
Die kürzlich entbrannte Mobilitätsdebatte über „kostenlosen Nahverkehr“ oder „gratis ÖPNV“ lässt Trendforscher abwechselnd schmunzeln und den Kopf schütteln. Ausgehend von unterschiedlichen politischen Lagern ploppt das Thema in aller Regelmäßigkeit kurz auf und verschwindet dann wieder ganz schnell in den Abgründen der vermeintlichen Fachblogs und in den Verbandssitzungen von Interessengemeinschaften, die den Verkehrsmix auf 100% Schiene, 100% Rad, auf jeden Fall aber 0% Pkw diskutieren wollen. Wie die Idee wahrscheinlich Realität werden, komplett anders aussehen und dabei sämtliche etablierte Player ratlos zurücklassen wird, möchte ich in diesem Beitrag skizzieren.
Wie so oft gehen politisch motivierte Grabenkämpfe selten um die wirklichen realen Bedürfnisse der Menschen. Jeder Stakeholder verfolgt die eigene, im Ergebnis gewinnmaximierende Agenda, ohne die eigenen Positionen und den Diskussionsverlauf nach Anpfiff der ersten Halbzeit einem Reality-Check zu unterziehen. Selbstverständlich locken die immer gleichen Diskursverläufe zuallererst die Bedenkenträger aus der Reserve, die eine konstruktive Lösung dann im Keim ersticken. An dieser Stelle möchte ich gar nicht mit dem Finger auf bestimmte Akteure zeigen, jeder ist mal an der Reihe. Und das ist nicht nur meine bescheidene Meinung, sondern hat nicht zuletzt Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie damit begründet, dass die systemischen Zwänge einzelner Subsysteme individuelle Motive aushebeln (stark verkürzt – liebe Soziologen, nehmt’s mir bitte nicht übel).
Mobilität in Deutschland
Besonders im deutschen Verkehrssektor haben wir es darüber hinaus mit einem für internationale Vergleiche übertrieben komplexen Geflecht aus wirksamen Gesetzen sämtlicher Ebenen, wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Verwaltungsorganen und privaten Unternehmen zu tun. Und – pluralistischer Gesellschaft sei Dank – die Interessenorganisationen reden natürlich auch noch ein Wörtchen mit. Am Ende gewinnt aber ohnehin die Partei mit dem dickeren Sitzfleisch, der größten Nähe des Lobbybüros zum Reichstagsgebäude und natürlich diejenige, welche die meisten Nein-Sager mobilisieren kann.
Schade! In Wirklichkeit wissen nämlich alle Beteiligten, dass das derzeitige System nicht sonderlich modern ist, sondern weit entfernt von agil bzw. adaptionsfähig für das, was uns in den kommenden Jahren erwartet. Die inkrementelle Logik der schrittweisen Ausbesserung von Mängeln ohne den Mut, weitreichende Fortschritte auch nur laut auszusprechen, verwehrt einer ganzen Nation den Zugang zu zeitgemäßer Mobilität. Da ich an dieser Stelle kein Buch schreiben will, endet genau jetzt die Polemik auf Politik und Gesellschaft und ich fokussiere auf das Thema der Einleitung: kostenloser ÖPNV.
Im Jahr 2013 war ich gerade dabei, meine Masterarbeit im Fach Zukunftsforschung mit Fokus aufs Verkehrswesen zu schreiben. Meine Betreuer waren ein Fachexperte aus Forschung und Lehre sowie ein Macher in der Bussparte eines der größten deutschen Mobilitätskonzerne. Das Thema im Wortlaut: „Disruptive Entwicklung ‚kostenloser ÖPNV‘: Utopie oder plausible Zukunft?“. Im Ergebnis ging es mir um den Vergleich der real existierenden Konzepte, die Analyse von Expertengesprächen zur Machbarkeit sowie die Essenz der Gelingensbedingungen. Spoiler: Mit einem gut durchdachten Finanzierungsmodell, das auf einer Bürgergebühr sowie Monetarisierung durch die Nutzer beruht, würde das System in kürzester Zeit gewinnbringend funktionieren. Das haben zwar nicht alle Experten gesagt, aber hier schreibe ja ich meine Einschätzung auf. Leider habe ich dazu keine aktuelle Modellrechnung, das wäre doch mal eine hübsche Aufgabe für unsere Kollegen von der KPMG. Natürlich ist die Idee schnell als Utopie abgetan, weil natürlich die Verkehrsverbünde, sämtliche (Bundes-)Verkehrsgesetze und alle Betreiber etwas dagegen haben könnten. Zack, Willkommen im Land der Visionslosen!
Mobilität ist nicht gleich Verkehr
Wie so oft, verharren die entscheidenden Menschen im trägen Optionstunnel und klammern sich lieber an das, was sie kennen, als nach Möglichkeiten zu suchen. Ein erster Lösungsbeitrag wäre deshalb einzugestehen, dass das derzeitige Verkehrssystem den heutigen Bedürfnissen von Mobilitätskunden nicht mehr gerecht wird. Immer weniger junge Menschen machen einen Führerschein, Autokauf ist zunehmen de-emotionalisiert, der Personentransport ist nicht mehr das, was er einmal war. Menschen möchten von A nach B, soweit, so richtig. Dass der individuelle Verkehrsmittelmix immer intermodaler wird – Pendler fahren mit dem Auto zum Bahnhof, mit dem Zug in die Stadt und mit einem Mietfahrrad ins Büro – ist ebenso nicht neu. Mobilität ist also das Bedürfnis danach, an unterschiedlichen Orten zu leben und zu arbeiten oder Freunde und Familie möglichst effizient zu erreichen. Aha: effizient! Ist es effizient, sowohl ein eigenes Fahrzeug im Wert von mehreren Zehntausend Euro zu besitzen, Versicherung und Steuern sowie Verschleiß zu finanzieren und zusätzlich Geld für öffentliche Verkehrsmittel bis zum Zweirad auszugeben? Und zusätzlich bei jeder Fahrt das Risiko einzugehen, im Individualverkehr in einen Unfall zu geraten? Das muss doch besser gehen. Und das tut es.
Zukunftsforscher erwarten Anfang der 2020er die ersten vollautonomen Fahrzeuge auf deutschen Straßen. Das mag für manchen Leser utopisch klingen oder den Reflex „vielleicht im Silicon Valley, aber nicht hier“ hervorrufen. Erwischt? Ich erkläre gern, warum. Zunächst einmal arbeiten inzwischen sämtliche Autohersteller zusammen mit den größten und innovativsten Technologieunternehmen der Welt daran, den Fahrer am Steuer zu ersetzen. Der Fahrer wird dabei inzwischen übersetzt mit „Sicherheitsrisiko“. Denn schon heute fahren die autonomen Prototypen von Waymo (Ausgründung von Alphabet, Google’s Mutterkonzern), Uber, Baidu, Tesla und Co. sicherer als menschliche Fahrer und verursachen weitaus weniger Unfälle als unachtsame Menschen. Technologisch ist die Aufgabe also sehr bald gelöst. Es wird nicht lange dauern, bis die Statistiken der Vorreiter-Regionen über Sicherheit und auch Ressourceneffizienz jeden Zweifler überzeugt haben werden. Auf diesen Moment warten weltweit zahlreiche Anbieter von (heute noch) Carsharing-Angeboten und Autovermietungen. Sie bereiten derzeit alles Nötige vor, um mit vollkommen neuen Geschäftsmodellen den öffentlichen Verkehr disruptiv zu verändern. Über die Anwendungsfälle habe ich in einem anderen Artikel schon geschrieben. Dass dieser Tag der Todestag des öffentlichen Verkehrs ist, möchte ich hier nun erläutern.
Individuelle Mobilität orientiert sich an den Grundbedürfnissen der Nutzer
Sobald die einschlägigen Unternehmen autonome Fahrzeuge – selbstfahrende Taxis, Hotelzimmer, Restaurants, Büros… – anbieten, sinkt der Preis von Mobilität an sich auf nahe Null Euro. Warum? Es wird nicht mehr darum gehen, eine Fahrt zu bestellen, sondern darum, wie das Gefährt, der fahrende Pod, von innen gestaltet ist. Kein Mensch interessiert sich dann mehr für PS, Verbrauch oder Heckspoiler. Es geht einzig um Entertainment-Systeme, Komfort an Bord oder die Speisekarte. Die Monetarisierung der Leistung folgt nicht mehr der alten Logik des Fahrzeug- oder Ticketkaufs, sondern basiert auf Abonnement-Modellen analog zu Spotify und Netflix mit jederzeit buchbaren Extras, Upselling an Bord und natürlich Werbung. Werbeblocker kosten selbstverständlich extra.
Sobald eine kritische Masse an Fahrzeugen in einem Ballungsgebiet verfügbar ist, hat das letzte Stündlein der starren stationsbasierten Angebote heutiger ÖPNV-Anbieter geschlagen. Denn wer läuft oder fährt schon gern die letzte Meile, wenn ein autonomes Fahrzeug diesen Service inklusive erledigt? Ja, es werden zunächst mehr einzelne Fahrzeuge auf den Straßen fahren. Nein, das wird zu keinem Verkehrsinfarkt führen. Schon heutige Modelle begrenzt autonomer Fahrzeuge zeigen den Effekt, dass zwar die Höchstgeschwindigkeit in Verkehrssystemen abnehmen, die Durchschnittsgeschwindigkeit aber massiv zunehmen wird. Das liegt unter anderem daran, dass die autonomen Pods geringeren Abstand halten und intelligent mit der Infrastruktur interagieren können.
Die Anwendung des ersten kommerziell nutzbaren Quantencomputers von D-Wave in Kooperation mit Volkswagen hat in Peking und Barcelona bereits gezeigt, dass durch die Vernetzung von Fahrzeugen und Ampeln Staus vermieden werden können. Der Computer konnte den Verkehr zwanzig Minuten vorhersagen und wird mit dieser Fähigkeit nicht nur bald meinen Job ersetzen, sondern Verkehrssysteme weltweit organisieren. Und dies war der allererste seines Typs mit nur wenigen Qubits … und wir kennen aus der Vergangenheit den erstaunlichen Effekt exponentieller Fortschritte in der Computertechnologie. Moore’s Gesetz auf Steroiden!
Was ÖPNV-Akteure jetzt tun müssen
Zurück zum ÖPNV. Die eigentliche Aufgabe der Stunde für Anbieter von Verkehrsleistungen im System rund um Betrieb, Verwaltung und Finanzierung der Mobilität lautet: radikales Umdenken. Ein Autohersteller nannte diese Anforderung mal „umparken im Kopf“, wobei ich mir nicht sicher bin, ob wir dasselbe meinen. Wenn ein Fahrgast in Potsdam in die S-Bahn steigt, in Berlin eine Regionalbahn nach Eberswalde nimmt, um dort mit einem (bald autonomen) Mietwagen den Rest zurückzulegen, möchte er nicht unterschiedliche Tarifzonen und Anbieter berücksichtigen müssen. Amazon-Chef Jeff Bezos kommentierte Geschäftsmodelle der digitalen Ära mal sinngemäß so, dass kein gutes Produkt verkauft werden, sondern ein Problem des Kunden gelöst werden muss … womit er auf einer Linie mit Henry Ford liegt, der ja auch keine schnelleren Pferde „herstellte“.
Schon heute lautet der Wunsch vieler Menschen: einmal buchen, ein Paketpreis, egal welcher Anbieter dabei auf welche Weise in die Abrechnung eingebunden ist. Das, was aufgrund der gewachsenen internen Prozesse, träger Unternehmenshierarchien und -kulturen sowie legislativer Hürden für etablierte Akteure eine schier unlösbare Herausforderung ist, denken die neuen, datengetriebenen Unternehmen wie Uber, Waymo oder Tesla von Anfang an mit. Offene Schnittstellen, digital übergangslose Regionswechsel über Stadt-, Land- und Staatsgrenzen hinweg, nutzungsbasierte Abrechnung und natürlich die Monetarisierung sämtlicher Datenpakete. Nutzer sehen allenfalls eine App, wenden sich an „Siri“ oder „Okay Google“ oder finden automatisch das autonome Taxi vor, wenn sie die Arbeitsstelle verlassen; die Mustererkennung weiß ja längst, dass jeden Donnerstag abends immer der Sportkurs stattfindet und auf direktem Wege nach der Arbeit zurückgelegt wird.
Ist die Lage damit im Grunde aussichtslos für heutige Akteure?
Ja, wenn weiterhin abgewartet und stur verwaltet wird. Nein, wenn die wichtigsten Entscheider endlich mit einer konkreten Vision sowie einer ambitionierten Roadmap auftreten.
Zukunft ist ja noch nicht geschrieben, sondern wird von uns gestaltet; also lassen Sie uns in den Austausch treten und das Beste draus machen!
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Die 5-6 Phasen zur autonomen Mobilität
In diesem kurzen Beitrag möchte ich die Phasen / Level zur autonomen Mobilität mit etwas mehr Leben füllen. Wenn Sie das hier lesen, sind Ihnen mit Sicherheit bereits Schaubilder wie das folgende begegnet, die die fünf Phasen (manchmal auch sechs, inkl. der „nullten“) zum autonomen Fahren skizzieren:
THE 5 LEVELS OF AUTONOMOUS DRIVING, (c) www.y-mobility.co-uk
Lassen Sie uns mehr Griffigkeit in diese kühlen Phasenbeschreibungen bringen. Wenn Sie gleich zu einer späteren Phase springen möchten, nur zu:
Phase 1 | Phase 2 | Phase 3 | Phase 4 | Phase 5 | (Zwischen-)Fazit
Phase 0: Keine Automation
Phase 0 ist das, was Sie vermutlich in der Fahrschule gelernt haben. Wahrscheinlich in einem VW Golf, dessen höchste elektrotechnische Errungenschaft das Kassettendeck war. Die gesamte Steuerung oblag dem Fahrer. Das Getriebe hatte maximal vier Gänge (plus Rückwärts). Sie haben auch beim Einparken kräftig gekurbelt, Bremsen war ein Gewaltakt, Anfahren am Berg der Horror. Autofahren war noch richtig Arbeit!. Möglicherweise liegt ihre Fahrschulzeit sogar so weit zurück, dass Sie nicht einmal einen Sicherheitsgurt umlegen mussten, da es ihn schlicht noch nicht gab – die Einbaupflicht für solche Gurte besteht erst seit 1974. Das gesamte Design des Autos orientierte sich daran, erstens dem Besitzer ein Gefühl von Freiheit, Unabhängigkeit zu verleihen und zweitens während der Fahrt erstens nicht auseinanderzubrechen.
Phase 1: Fahrassistenzsysteme
In Phase 1 in Richtung Automatisierung kamen die ersten unterstützenden Funktionen in die Serienausstattung. Dazu gehörten die Servo-Lenkung, Bremskraftverstärker, ABS-Systeme, die die Lenkung des Wagens auch beim Bremsen in Gefahrensituationen ermöglichten, Fahrdynamikregelungen zur Stabilisierung der Fahrdynamik wie ESP und ASR, welche seit 2014 beim Neuwagen verpflichtend sind. Unterm Strich alles kleinere Optimierungen, die vor allem den benötigten Energieaufwand des Fahrers verringerten. Am Außendesign hatte sich nichts geändert, der Innenraum hatte plötzlich etwas mehr Knöpfe im Cockpit – und vielleicht einen CD-Player.
Phase 2: Partielle Automation
Diese Phase dürfte Ihnen bekannt vorkommen, wenn Sie in der Regel mit Mittelklasse-Fahrzeugen reisen, denn Fahrzeuge dieser Entwicklungsstufe sind im Jahr 2018 am verbreitetsten. Nach ABS, ESP, Servolenkung etc. fragen Sie beim Autokauf gar nicht mehr, sie gehören zur Standardausstattung. Wahrscheinlich hat Ihr Fahrzeug ein Tempomat, mit dem Sie die Kontrolle über die Geschwindigkeit ans System übertragen. Vermutlich sind Sie immer noch Selbstschalter ohne Automatikgetriebe (Statistik von 2011). Aber Sie profitieren vermutlich bereits vom automatisch abblendenden Rückspiegel und Fernlicht, haben womöglich eine Start-Stopp-Automatik und vielleicht auch ein fest integriertes Navigations- und Entertainment-System. Einige Dutzend Sensoren sind bereits in Ihrem Fahrzeug verbaut, die die Umgebung analysieren und den Scheibenwischer aktivieren, die die passive Beleuchtung im Innenraum abdunkeln, wenn es draußen dunkel wird, und die die Außenlichter dem Streckenverlauf anpassen. Genauso wie die Lenkung, die bei Verlassen der Spur ohne vorheriges Blinken gegenhält oder zumindest vibriert. Wenn Sie müde wirken, überredet Sie Ihr Fahrzeug zu einer Pause und leitet eine Notfallbremsung ein, wenn etwas in Ihrem Fahrtweg auftaucht – ich hoffe, dieses Feature kennen Sie noch nicht aus eigener Erfahrung. Mindestens aber protestiert Ihr Auto lautstark, wenn Sie ein anderes Fahrzeug im toten Winkel übersehen haben. Ein wachsender Anteil der Pkw ist darüber hinaus mit dem Internet verbunden, um unter anderem aktuelle Verkehrsmeldungen in die Navigation einzubinden oder umgekehrt Betriebsdaten an Hersteller oder Notfallzentralen zu senden. Kombiniert führen all diese Funktionen zu Passagen, in denen bei einer Autobahnfahrt zumindest für ein paar Sekunden das Gefühl automatisierten Fahrens simuliert werden kann. Tempomat und Lane-Assistant und der automatische Abstandshalter klappen solange gut, bis das System Sie daran erinnert, die Hände doch nun bitte wieder ans Steuer zu legen.
Auch in dieser Evolutionsphase des Autos ergeben sich noch keine fundamentalen Veränderungen im Außen- und Innendesign. Je nach Hersteller verändert sich das Design, denn die Außenformen gehen weg von kantig hin zu abgerundet, SUV sind aus dem Stadtbild und den Verkehrsunfallstatistiken nicht mehr wegzudenken. Der Innenraum insgesamt ist komfortabler denn je, die Stoffe edler, Sitze bequemer und selbst in Kleinwagen die Beinfreiheit größer. Einige Mittelklasse-Fahrzeuge erlauben im Stand zum Teil sogar das Zurückstellen der Vordersitze bis in die Waagerechte (geht natürlich nur, wenn hinten niemand sitzt), einige bieten gegen Aufpreis eine Massagefunktion.
Phase 3: Bedingte Automation
Unter guten Wetter- und Straßenbedingungen ist in Phase 3 die Autonomie einen entscheidenden Schritt weiter. Besonders im langsamen Verkehr sind die ersten Level 3-fähigen Fahrzeuge bereits schneller als jeder menschliche Fahrer, da sie die Aufmerksamkeitssekunde des Menschen weit hinter sich lassen. Der Bordcomputer übersteigt die Rechenleistung unserer gängigen Firmen-PCs bei Weitem. Er errechnet permanent sämtliche mögliche Eintrittsszenarien, um im tatsächlichen Falle des Auftretens in Bruchteilen einer Sekunde reagieren zu können. Die meisten Medien berichten leider nur über tödliche oder mindestens verheerende Unfälle mithilfe „autonomer“ Fahrzeuge von Uber oder Tesla, welche statistisch gesehen praktisch nicht geschehen (bei allem gebührenden Respekt für die Opfer!). Dabei gibt es auch eine lange Reihe guter Beispiele, googeln Sie mal „autonomous car prevents crash“ und überzeugen sich im Zweifel von der unglaublichen Leistung heutiger Systeme. Wie dem auch sei, in den Handbüchern der Phase 3-Fahrzeuge und rein regulatorisch die permanente Aufmerksamkeit des menschlichen Fahrers erforderlich. In den USA wird die Gesetzgebung nun aber vorausschauend genau daraufhin angepasst (Meldung vom 4.10.2018), den Weg für selbstfahrende Autos freizumachen. Ford hat beispielsweise bekannt gegeben, Phase 3 komplett zu überspringen und direkt in die nächste Phase einzutreten.
Phase 4: Hohe Automation
In dieser Phase werden erstmals Szenarien wie das folgende Realität: Das Auto fragt, wohin es gehen soll, Sie sagen das Ziel, legen den Sicherheitsgurt an – und los geht’s. Das Fahrzeug startet selbstständig, begibt sich auf die Route und steuert autonom zum Ziel. Es erkennt alle Verkehrszeichen und beachtet haargenau die daran geknüpften Regeln, beschleunigt angemessen und bremst selbstständig ab, wenn ein vorfahrendes Fahrzeug langsamer ist oder anhält. In unsicheren Situationen wird es Sie aber dennoch benachrichtigen und Ihr Eingreifen einfordern. Dennoch ist es nun vollkommen okay, wenn Sie sich zurücklehnen und ein Buch lesen, an der Kundenpräsentation für den Termin am Bestimmungsort arbeiten oder in Ruhe eine Mahlzeit genießen. Das Interieur ist dennoch nach wie vor weitestgehend unverändert; zwei Sitze vorn, eine Sitzbank hinten, womöglich mehr interaktive Elemente im Entertainment-Bildschirm und vielleicht hier und da ein Bordsystem mit den beliebtesten Netflix-Filmen.
Und an dieser Stelle wird sich der geneigte Entrepreneur denken: Da können wir ja plötzlich ganz neue Nutzungswelten ermöglichen! Ja, genau! Wenn der Insasse, der in der Nähe des immer noch vorhandenen Lenkrads sitzt, nicht mehr 100% seiner Aufmerksamkeit auf den Straßenverkehr und die Steuerung des ihn umgebenden fahrenden Vehikels verwenden muss, wird es schnell langweilig. Die ersten Konzeptfahrzeuge in diesem Segment verfügen bereits über schwenkbare Frontsitze und haben beispielsweise einen Tisch in der Mitte, auf dem die Insassen gemeinsam Karten spielen, essen oder arbeiten können. Ein anderer naheliegender Use Case ist es, autonome Lieferfahrzeuge einzusetzen. Im Lager oder dem Produktionsort bestückt, fahren sie selbstständig zur Zieladresse und lassen sich über Kunden-Schnittstellen öffnen. Klingt theoretisch? Der Pizza-Lieferdienst Domino’s macht’s schon heute:
Und damit verabschieden wir uns von unserem klassischen Verständnis der Mobilität. Goodbye, human drivers and thanks for the fish!
Phase 5: Komplette Automation
Dies wird die vollendete Phase der Automation sein. Verabschieden Sie sich bitte gedanklich schon einmal von folgenden Bestandteilen des Autofahrens:
- Lenkrad
- Gas- und Bremspedale
- Rück- und Seitenspiegel
- Klassische Cockpitbestandteile (Blinker, Scheibenwischhebel, Tankanzeige…)Und mehr noch. Gewöhnen Sie sich auch gedanklich schon einmal daran, dass die selbstfahrenden Kapseln plötzlich in ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen möglich sind. Natürlich wird es weiterhin kleinere Fahrzeuge geben, die als Robo-Taxi einen oder mehrere Passagiere befördern. Hinzu kommen größere Gefäße (verkehrswissenschaftlich für Beförderungseinheiten), die Anwendungszwecke in mobile Geschäftsmodelle verwandeln:
- das fahrende Büro enthält bequeme, produktivitätsfördernde Sitze und hat genügend Steckdosen für Ihr mobiles Office. Natürlich darf ein ausreichend großer Schreibtisch nicht fehlen, vielleicht sogar ein Flipchart / Whiteboard / Smartboard, wenn Sie mit Kollegen eine produktive Session planen. Die Minibar können Sie mit einem entsprechenden Code freischalten. Alle Fenster enthalten LED, die nach Bedarf durchsichtig sind, komplett verdunkeln, eine Präsentation oder jedes beliebige Video zeigen. Die Arbeitsplatte enthält Hologramm-Technologie, um 3D-Modelle in den Raum zu projizieren. Dieses Umfeld passt nicht in einen durchschnittlichen Mittelklassewagen, sondern wird eher einem kleinen Multivan gleichen. Im Kofferraum ist natürlich genügend Platz für das Gepäck für die Dienstreisenden.
- wenn Sie in ein fahrendes Hotelzimmer einsteigen und die Tür hinter sich schließen, werden Sie auf den ersten Blick keinen Unterschied zu einem heutigen 4- oder 5-Sterne Hotelzimmer ausmachen können. Sie finden einen kleinen Arbeitsplatz mit Stuhl vor, sehen sofort das bequeme Bett mit Nachttisch und ein kleines Badezimmer. Der Anwendungsfall passt für die über 180 Millionen Geschäftsreisen im Jahr 2017 (Quelle), besonders denen über Nacht und am frühen Morgen: am Abend einsteigen, einschlafen, im Hotel-Dock ankommen und das kontinentale Frühstück genießen, bevor es ganz entspannt zum Termin gehen kann.
(Zwischen-)Fazit
Entsprechende Geschäftsmodellideen denken sich übrigens keine Zukunftsforscher aus, sondern Unternehmer. Wir stellen dann die Folgefragen:
was bedeutet der Eintritt selbstfahrender Fahrzeuge für die Luftfahrtbranche oder für die Hotellerie? Was bedeutet es für den Absatz von Fahrzeugen, was für die Versicherungsbranche, die plötzlich keine Endkunden mehr betreut, sondern fast ausschließlich Flottenbetreiber, und plötzlich auch Schäden an oder Servicemängel durch Hotelinterieur versichern soll?
Welche Infrastruktur und Vernetzung von Geräten erfordert die autonome Mobilität? Welche Antennentechnologien sind nötig, welche Software und Deep Learning-Algorithmen kommen zum Einsatz, warum führen Distributed Ledger-Technologien wie Blockchain, Tangle und Hashgraph auf direktem Wege in eine autonome Ökonomie, in der Maschinen bald den Hauptteil der finanziellen Transaktionen auslösen werden?
Welche weiteren Anwendungsfälle für Geschäftsmodelle ergeben sich für andere Branchen?
Ich hoffe, dieser Artikel bietet Ihnen fürs Erste „food for thought“, jede Menge Ansätze für einen Transfer in Ihr Umfeld.
PS: Wenn Sie zu den Pionieren autonomer Systeme reisen wollen, können Sie natürlich in den Westen der USA reisen – so würden es die meisten tun. Spannender finde ich China. Welche Unternehmen sehenswert sind, behandelt dieser Medium-Artikel „Breakdown of self-driving car industry in China“.
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Das Politik-Debakel der Etablierten
Andrea Nahles, (jetzt) Ex-Chefin der SPD-Fraktion und Partei und ehemalige Bundesarbeitsministerin und SPD-Generalsekretärin, ist zurückgetreten. CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (#akk) wird wohl bald abgewählt. Die Große Koalition (#groko) wankt ob der tektonischen Plattenverschiebungen im politischen Betrieb. Ist die Politik noch zu retten?
Was für ein Scherbenhaufen! Wer dieser Tage die Meldungen aus Presse, Funk und Fernsehen (bzw. Twitter, Youtube und ZEIT Online und Co.) verfolgt, kann nur noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Das gilt zumindest für alle Verbliebenen, die ihre Politikverdrossenheit nicht bereits vollends durch die komplette Hingabe zu anderen Themen und Tätigkeiten ausleben. Wenn wir als Indikator für die erste Gruppe die Beteiligung der Wahlberechtigten am Urnengang zu den Europawahlen heranziehen, sind das also EU-weit knapp 51 % (mehr als 200 Millionen Menschen!), in Deutschland sogar 61,4 %. Die Europawahlen wiederum werden gern als Messgröße für kommende Wahlen der nationalen Parlamente herangezogen und damit ist klar: Die ehemaligen Volksparteien haben hierzulande desaströs versagt. Nutznießer der ganzen Tragödie in drei Akten: Die Grünen.
Ein von „den Etablierten“ zweifelsohne unterschätzter Kanal ist das Internet. Also #neuland. In meiner scheinbar naiven Weltsicht war ich bis vor Kurzem noch davon ausgegangen, dass Spitzenpolitiker*innen inzwischen begriffen hätten, was das Internet auch mit ihrem System macht. Ich lag falsch. In epischer Tragweite können wir seit ein paar Tagen und in den folgenden Wochen beobachten, welche Konsequenzen daraus folgen. Erste Stimmen fordern die Auflösung der Großen Koalition (#groko) und Neuwahlen auf Bundesebene (und das ist im trägen, „alternativlosen“ Deutschland!), Revolutionen der Parteiprogramme (Stichwort Kevin Kühnert) bis hin zur kompletten Revision des politischen Systems. Was ist da los!?
Rückblick: Die Demontage der Etablierten
In Zeiten der vernetzten, pluralistischen Gesellschaft möchte auch ich meinen Beitrag zum Diskurs leisten. Dazu eine subjektive A-Chronologie der letzten Meilensteine.
- 2. Juni 2019: Die Vorsitzende der ehemaligen Volkspartei SPD, Andrea Nahles, tritt von ihren Ämtern als Fraktions- und Parteichefin zurück (mit Wirkung zum 4. bzw. 5. Juni). Sie zieht damit die Konsequenz aus den desaströsen Wahlergebnissen der Europawahlen am 26. Mai 2019. Irgendwer muss ja den Kopf hinhalten.
- 26. Mai 2019: Europawahlen. Schon die ersten Hochrechnungen verheißen nichts Gutes für die Etablierten. Es zeichnet sich früh ab, dass die Grünenpartei einen historischen Erfolg feiern wird; auch Splitterparteien wie DIE PARTEI oder Volt erhalten Sitze im Europaparlament in Brüssel – natürlich auf Kosten der Etablierten. Dass letztere (zum Teil) überhaupt zur Wahl zugelassen wurden, ist der bereits erwähnten Trägheit der politikverwalterischen Trägheit zuzuschreiben – es wurde schlicht verschlafen, die EU-weite Prozenthürde umzusetzen. Und so hatten Wähler*innen in Deutschland 41 Optionen auf den meterlangen (keine Übertreibung) Stimmzetteln und folglich Schwierigkeiten beim Falten, um das Papier für den Urnenschlitz passend zu präparieren.
- 18. Mai 2019: Der Youtube-Influencer Rezo veröffentlicht eine Woche vor den Europawahlen ein Video mit dem Titel „Die Zerstörung der CDU“ (s. Quellen). Inhalt des fast einstündigen Videos ist eine überwiegend gut recherchierte Polemik gegen eigentlich alle etablierten Parteien, in dem Rezo gezielt einige Programmpunkte der CDU kritisch diskutiert. Inzwischen wurde das Video gut 14 Millionen Mal aufgerufen, hat über 1,1 Million Likes (Stand: 2. Mai 2019).
- 20. August 2018: Greta Thunberg legt den Grundstein für die „neue Klimastreikbewegung“ kurz vor den Wahlen zum schwedischen Reichstag. Inzwischen haben sich mehrere Millionen Schüler*innen weltweit angeschlossen und protestieren im Rahmen der #fridaysforfuture Kundgebungen für mehr Wahrhaftigkeit und Konsequenz im politischen Handeln. Neben der inhaltlichen Komponente steckt darin auch eine Drohung: Die solidarischen Schüler*innen werden in den kommenden Jahren schrittweise Wahlberechtigte.
- 19. Juni 2013: Bundeskanzlerin Angela Merkel trifft den damaligen US-Präsidenten Barack Obama in Berlin. Das Spektakel wird historisch in die Annalen eingehen als der Tag, an dem die Regierungschefin eines der wirtschaftsstärksten Staaten der Welt folgenden Satz prägt: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Autsch.
April 2011: In mehreren zumeist nordafrikanischen, islamisch geprägten Staaten rumort es heftig. Ägypten, Libyen, Tunesien… abgesehen von der kulturell-historisch-politisch-verzwickten Situation erlebt die vernetzte Weltgesellschaft hautnah mit, was auf dem Tahrir-Platz passiert: Über Twitter und Youtbe senden vor allem Demonstranten und Regimegegner trotz der Zensur Live-Bilder vom Ort des Geschehens. Die Internet-Präsenz der schrecklichen Zustände ist historisch neu, die Smartphone-Revolution ausgerufen. - Ansonsten:
- 2018 nutzten 57 Millionen Menschen in Deutschland ein Smartphone, fünf Jahre vorher waren es knapp über 40 Millionen, 2009 gerade mal 6 Millionen (Statista). Weltweit hatten 2018 mehr Menschen Zugang zum Internet als zu sauberem Trinkwasser (googeln Sie bitte selbst mit Ihrem Smartphone die jeweiligen Statistiken).
- „Mitte 2012 hatten 21,4 Millionen Haushalte einen DSL-Anschluss, während 3,6 Millionen Kabel-Internet-Anschlüsse bestanden,[3] womit der DSL-Marktanteil am Breitbandmarkt ca. 86 % betrug.“ (Wikipedia) Wir sind alle vernetzt – ob durch Skype, Whatsapp, Facebook oder die gute, alte E-Mail: Distanzen werden nicht mehr in Metern gemessen, sondern in relativer Nähe und Aufmerksamkeit.
- 9. November 2007: Das iPhone kommt als erstes voll funktionales Smartphone in Deutschland auf den Markt. Ein historisch bedeutsames Datum – Vorratsdatenspeicherung, Anti-Terror-Gesetz, Mauerfall, Rolling Stone Magazine, 68er Bewegung, Petersburger Abkommen, Pogromnacht, Geburt Jean Monnets, Novemberrevolution… Auch die mobile Anbindung ans Internet, Zugang zum Online-Handel und permanenter Verfügbarkeit von Wikipedia und Chefkoch.de hat die Menschen verändert.
- 1990 begann die Kommerzialisierung des Internets (Wikipedia zur Geschichte des Internets) und damit war der Grundstein für die Ausbreitung des Omninet gelegt (mein Beitrag zum Thema).
Achtung: Subjektives Zwischenfazit
Die Spitzenpolitik der Bundesrepublik Deutschland hat trotz der offensichtlich nicht erst seit gestern existierenden Vernetzung oder Digitalisierung immer noch nicht begriffen, was es bedeutet, wenn ein Mensch ein „virales Video“ auf Youtube (oder einem anderen digitalen Kanal) teilt. Annegret Kramp-Karrenbauer beispielsweise hat den Einfluss des Internetstars Rezo ganz offensichtlich unterschätzt und sich auf den Rückhalt in ihrem System verlassen. Die CDU ist an ihrer eigenen Struktur gescheitert, adäquat auf Rezo zu reagieren (Philipp Amthor wollte, durfte aber nicht). Die SPD lässt immerhin Generalsekretär Lars Klingbeil, Juso-Chef Kevin Kühnert und MdE Tiemo Wölken gewähren. Beide Aktionen können dennoch nur wenige Scherben aufsammeln, um das Wahl-Drama einigermaßen abzufedern (wobei es wohl nie errechnet werden kann, welche exakten Auswirkungen die jeweilige Taktiken hatten).
So, genug Meinung, eine Episode Wissenschaft, bitte!
Meta-Perspektivwechsel: Systeme
Jedes gesellschaftliche System funktioniert – nach Niklas Luhmann, dem Soziologie-Gott – nach einer eigenen, sich selbst erhaltendenden (autopoietischen) Logik. Ob eine Familie, ein Freundeskreis, ein Landkreis, eine Nation, ein Staatenbund, eine Religion etc.: Menschen organisieren sich in Gruppen und sind per se loyal zu ihren Gruppenmitgliedern. Daraus ergeben sich formelle (v.a. Gesetze) und informelle (v.a. Verhaltensweisen) Kodizes. Dabei spielt die Sprache eine zentrale Rolle: gesprochenes Wort ebenso wie Handlungslogiken, gewissermaßen die Währung jeglicher Transaktion. In der Wirtschaft ist dies das Geld, in sozialen Beziehungen die Zuneigung, in der Informationstechnologie Bits und Bytes, in der Politik die Macht.
In Zeiten der Digitalisierung verwischen diese Grenzen jedoch zusehends. Wo in prä-digitalisierten Zeiten zunächst Gemeinschaften, viel später Gesellschaften, Herzogtümer, Staaten und Staatenbünde organisiert wurden, kann in global vernetzten Zeiten potentiell jeder Mensch mit jedem anderen Mensch Kontakt aufnehmen, solange dieser Zugang zu einem internetfähigen Gerät hat. Die potentielle Größe dieses Netzwerks übersteigt nicht nur die Vorstellungskraft eines durchschnittlichen Homo sapiens – immerhin reden wir hier über aktuell potentiell gut 4^4-1 Milliarden Verbindungen -, sie übersteigt auch die Möglichkeiten der gängigen Systemgrenzen. Kein Wunder, dass viele im Angesicht derartiger Komplexität den Kopf in den Sand stecken und Brexit, Protektionismus und Autoritarismus die Tore öffnen. Immerhin „war ja früher alles besser“.
Die heutigen Systeme sind maßlos überfordert mit den jüngsten technologischen Entwicklungen. Einige Politiker*innen haben zwar Twitter für sich und ihre Selbstdarstellung entdeckt, doch das ist nicht Digitalisierung. Es gibt gute Gründe, warum Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Judikative) in demokratischen Systemen eingeführt wurde – und vor allem bestand historisch gesehen die Notwendigkeit dazu, diverse Prozesse und (Handlungs-)Logiken innerhalb dieser Systeme auf individuelle und soziale Fähigkeiten zu delegieren. Es wäre aber zu kurz gedacht zu behaupten, dass die o.g. Zäsuren neuer Medien im politischen Diskurs lediglich Modeerscheinungen oder Zeitgeist waren. Für das neue Zeitalter der digitalisierten Ära des Homo sapiens brauchen wir nicht nur gebildete Politik und Verwaltung, sondern ein grundlegend neues Denkmuster (mindset).
Dass diese Perspektive extrem kurz diskutiert wird, bitte ich zu entschuldigen. Wichtiger ist für diesen Beitrag, wie es nun weitergehen soll.
Grundrisse für eine zukünftige Politik
Juso-Chef Kevin Kühnert hat in einem Interview nach den Europawahlen gesagt, dass Personaldiskussionen für ihn weder an erster noch an zweiter Stelle kommen. Das ist nicht nur rhetorisch absolut brillant, weil er sich selbst natürlich durch solche Aussagen nach oben katapultiert, sondern nüchtern betrachtet sogar richtig (und in dem Interview dann natürlich nicht vertieft diskutiert). Das Schicksal einer Partei, also einer hochprofessionell organisierten Interessengemeinschaft, sollte nicht von ein paar (aus-)gewählten Köpfen abhängen. Das historisch gewachsene System der Parteienlandschaft sieht aber aktuell keinen anderen Weg vor und Updates fallen dem alten System noch schwer – heute noch wird vielerorts über die Entscheidung der Grünenpartei einer Doppelspitze für den Fraktionsvorsitz gelästert. Wie Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb, ist Politik das Bohren dicker Bretter… um im mechanischen Bild zu bleiben: der Bohrer benötigt eine Renovierung. Also, ein paar Denkanstöße für Renovierungsbedarf in Politik und Verwaltung:
- Geschwindigkeit vs. Augenmaß: Die Welt tickt spätestens seit Whatsapp, Echtzeit-Brokerage und just-in-time-Produktion schneller als es das politische System abbilden könnte. Selbstverständlich sind menschliche Gehirne nicht dafür gemacht, sämtliche mögliche Konsequenzen einzelner Entscheidungen vorzudenken und ex ante in die Verhandlungen einzubeziehen. Ebenso selbstverständlich gibt es berechtigte Interessen von Unternehmen, Bürgerrechtsbewegungen, Klimaaktivisten etc., die ein Wörtchen mitreden wollen bei Entscheidungen. Neben Ausschüssen, Instituten für Technikfolgenabschätzung und Beratungsunternehmen geht der Blick fürs große Ganze (und viele Steuergelder) verloren. Lösungsansatz: Mithilfe von künstlicher Intelligenz im Status Quo können längst Zusammenhänge sichtbar gemacht werden, die kein Mensch mit dem bloßen Auge erkennen mag. Das Ergebnis sind keine deterministischen ja/nein-Entscheidungsvorlagen, sondern nahezu holistische Auswertungen der Gegenwart und Vergangenheit. Warum nutzen Top-Konzerne wie Apple, Microsoft, Softbank oder Alphabet solche Software – aber Staaten nicht?
- Politik vs. Wissenschaft: Insbesondere im Zuge der Klimadebatte frage ich mich oft, wieso ernsthaft Plenardebatten über das Ausmaß der menschlichen Schuld am unbestreitbaren Klimawandel geführt werden – und ganz besonders darüber, welcher Staat bzw. welches Volk mehr schädliche Emissionen verursacht hat. Diese Diskussionen würde ich gern in die Kaffeeclubs der Abgeordneten verbannen und stattdessen verbindliche Maßnahmen vorantreiben. Nicht nur auf dem Gebiet der Klimaforschung läuft uns die Zeit davon; auch in der Bildung, der Integration, dem sozialen Vertrag zwischen Alt und Jung (Stichwort sichere Rente), der Infrastruktur, der Entwicklung künstlicher Intelligenz und vielen mehr werden persönliche oder Partei-Meinungen ausgetauscht, wo längst wissenschaftliche Evidenz existiert. Projektmanager aus agilen, marktführenden Unternehmen würden nur den Kopf schütteln, wenn sie das Management von Parlamentsdebatten analysieren müssten. Weniger Rhetorik, mehr (potentiell unliebsame) verbindliche Entscheidungen!
- Arbeitgeber vs. Arbeitnehmer: Jeder Strukturwandel bringt Auswirkungen für die Wirtschaft mit sich. Es hilft aber nichts, sich vor den Konsequenzen zu drücken. Arbeitgeberverbände betteln um Steuererleichterungen und Minderung bei den Sozialabgaben, Arbeitnehmerverbände sprechen sich offen gegen „disruptive“ Innovationen aus, um Arbeitsplätze zu sichern. Ein scheinbar unlösbarer Konflikt, da beide in unterschiedlichen Systemen agieren. Die einen wollen Profite maximieren, die anderen Arbeitsbedingungen konservieren. Beide scheitern an global vernetzten Systemen, die leider wenig Rücksicht auf geografische Systeme nehmen. Wer Arbeitsplätze sichern möchte, muss langfristige, realistische Prognosen zurate nehmen und die Transformation rechtzeitig einleiten anstatt den alten Status Quo zu bewahren, bis der Umschwung plötzlich radikal vor der Tür steht. Wer Profite maximieren möchte, muss zeitgemäße Organisations- und Prozess-Werkzeuge bemühen anstatt Aktionäre kurzfristig durch inkrementelle Verbesserungen in der Bilanz zu befrieden.
- Fraktionszwang vs. Gewissen der Abgeordneten: Vom Tag der Wahl in den Bundestag findet sich ein/e Abgeordnete/r in einem fundamentalen Gewissenskonflikt wieder. Einerseits die Wahlversprechen gegenüber den Bürger*innen, andererseits die Verpflichtung gegenüber der eigenen Fraktion, die nicht in erster Linie die Landespolitik der Gewählten in ihren Grundfesten verankert hat. Wie sollen diese Differenzen vereinbar sein? Nun, durch Vernetzung (von sozialen Medien bis blockchain / DLT Abstimmungen) können alle Interessierten, Involvierten, Betroffenen technisch simpel an Entscheidungen partizipieren. Für den Bau eines Schwimmbads sind dies die Steuerzahler*innen einer Kommune oder eines Landkreises; für die Entscheidung von Tempolimits auf Autobahnen alle Verkehrsteilnehmer*innen, und so weiter. Direkt-digitale Demokratie ist das Schlagwort.
Kurzum: Das Ende der Geschichte…
… tritt wieder nicht ein. Der renommierte Politikwissenschaftler Francis Fukuyama prophezeite 1992 nach dem Fall des Eisernen Vorhangs das „Ende der Geschichte“, nicht zuletzt da die Ideologie-Frage zwischen Kapitalismus und Kommunismus geklärt schien. Aber das ist natürlich Quatsch. Auch wird die Utopie einer perfekten Gesellschaft und Politik weder durch meine noch durch anderer Leute Vorschläge nächstes Jahr am 1. Januar eintreten.
Mein persönlicher Ansporn auf einem Weg in eine „Welt mit Zukunft“ ist und bleibt es jedoch, auf Missstände hinzuweisen und konstruktive, oft fundamentale Lösungsansätze zu präsentieren. Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, möchte ich mich zunächst für die Aufmerksamkeit bedanken. Wenn Sie einen neuen Gedanken gedacht haben, freue ich mich über Kommentare und Vervielfältigung meiner Gedanken – und erst recht über die Umsetzung im Kleinen wie im Großen. Außerdem soll auch dieser Beitrag wie immer als Einladung zum Perspektivwechsel dienen; denn wenn wir so weitermachen, wie bisher, kommen wir nicht weiter.
Ausgewählte Quellen
Institut für deutsche Wirtschaft IWD (2019): Was der Wahlbeteiligung auf die Sprünge hilft.
Luhmann, Niklas (2002): Einführung in die Systemtheorie.
Photo by Andrew Buchanan on Unsplash
Rezo ja lol ey (2019): Die Zerstörung der CDU:
Thunberg, Greta (2019): TED Ein eindringlicher Appell, schnellstens gegen den Klimawandel vorzugehen: