Buchtipp: Factfulness (Hans Rosling)
"Factfulness - wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist." Ein viel versprechender Titel! Und eine unheimlich wichtige Mission in Zeiten alternativer Fakten, Fake News und Verschwörungsmythen. Kann das Buch halten, was der Titel verspricht?
Was steht drin?
Zur Person: Der schwedische Mediziner und Statistiker Hans Rosling war Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Institutet und Direktor der Gapminder-Stiftung in Stockholm. Durch eine Reihe von TED-Talks erreichte er mehr und mehr den weltweiten Bekanntheitsgrad eines Wissenschafts-Popstars, sein Lebenswerk "Factfulness" trägt all diese Entwicklungen zusammen und verfolgt das Ziel, Menschen wieder zum Nachdenken zu ermuntern.
Afrika ist arm, die Industriestaaten sind reich, die Weltbevölkerung explodiert und bald gibt es nicht mehr genug zu Essen für alle.
Das sind nur einige der Vorurteile, die Hans Rosling adressiert und charmant mit Anekdoten widerlegt. Das Buch basiert auf biographischen Erzählungen des Autors, die immer wieder durch internationale Statistiken untermauert werden. Diese sammelte Rosling unter anderem mit der Gapminder Stiftung, die er 2005 mit seinem Sohn Ola Rosling und Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund gegründet hat. Dutzende Male hat Rosling mich als Leser bei meinen Vorurteilen bzw. eingefahrenen Annahmen über Zusammenhänge in der Welt erwischt. Gleichzeitig hat er mir auch immer wieder das beklemmende Gefühl der eigenen Dummheit genommen, indem er Umfrageergebnisse teilt. Sie zeigen, dass die wenigsten Menschen in Industriestaaten beispielsweise die Entwicklung der Armut oder Zugang zu Bildung und Medizin in "Entwicklungsländern" korrekt eingeschätzt haben. Manchmal liegen sogar Nobelpreisträger weiter daneben als der Median der Bevölkerung - selbst Schimpansen tippen oft besser als die subjektiv geprägten Genies.
Und so lernen wir bei der Lektüre unter anderem, dass ...
- ... das Bruttoinlandsprodukt der "Entwicklungsländer" erheblich gestiegen ist.
- ... in den Metropolen der "Industriestaaten" ärmere Menschen leben als in vielen afrikanischen Ländern.
- ... die Weltbevölkerung nur noch bis ca. Mitte des Jahrhunderts anwachsen wird.
- ... nicht die Menge vorhandenener Nahrung das Problem ist, sondern der Wille, sie gerecht aufzuteilen.
Statt antiquierter Bezeichnungen für Staaten wie Erste vs. Dritte Welt hat Rosling ein Stufenmodell entwickelt, das den individuellen Lebensstandard widergibt. Dazu gehört auch die These, dass man umso weniger Veränderungen auf den unteren Entwicklungsebenen wahrnimmt, je weiter man aufgestiegen ist. Die bekannte Arroganz des "Westens" also. Dabei bleibt Rosling für meinen Geschmack stets undogmatisch und respektvoll, legt den Finger jedoch spürbar in die Wunden der Ex-Kolonialmächte.
Das Buch folgt im Aufbau verschiedenen Instinkten der Menschen, welche in der vernetzten und medial verzerrten Welt oft auf die falsche Fährte geraten. Schuld daran ist unter anderem unser Drama-Filter, welcher (evolutiv bedingt) die Gesamheit der Informationen, die in jedem Moment auf uns einprasseln, dahingehend prüft, ob sie eine Bedrohung für uns darstellen können. Dieser Filter ist es, der sich von der Berichterstattung vieler Leitmedien in die Irre führen lässt und permanent Stresssignale produziert. Rosling plädiert dafür, den Vorhang zu lüften und sich von dieser sehr einfachen Herangehensweise an Realität zu lösen. Darüber hinaus sollte man sich weniger an den klassischen Charakterzügen des Optimismus, Pessimismus oder Realismus orientieren, sondern eher zum Probabilisten werden. Als Probabilist*in lebt es sich leichter, da man lernt, Zusammenhänge herzustellen, mutmaßliche Fakten zu hinterfragen und ausgewogene Entscheidungen zu treffen. Kann ich nur empfehlen.
Meta
Die erste Auflage in deutscher Sprache erschien posthum 2019; Hans Rosling verstarb leider 2017. Sein Sohn Ola Rosling und Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund vollendeten das Werk. Die beiden sind auch die Köpfe hinter der Gapminder Foundation und der dazugehörigen "Trendanalyzer"-Software. Diese wurde bereits zwei Jahre später von Google gekauft und visualisiert seither auf noch größerer Ebene Informationen, die aus verlässlichen Quellen und Statistiken stammen.
Der Mensch ist durch seine Biologie stark eingeschränkt, wenn er nicht seine Gabe, den kognitiven Supercomputer im Schädel, vernünftig nutzt. Factfulness ist eine erfrischende Herangehensweise an Behauptungen in den Medien - insbesondere Social Media -, die dabei helfen kann, weniger leichtgläubig und gleichzeitig weniger angreifbar zu sein. Wenn man sich die Facebook-Kommentare zu bestimmten Medienmeldungen anschaut (insbesondere seit Corona), kann einem schon übel werden; wenn man diese Entgleisungen einiger weniger kognitiv Gesegneter ins Verhältnis dazu setzt, wie viele Menschen sich für ein friedliches Miteinander engagieren, wird's besser. Versprochen.
Trivia: Ich höre sehr selten Hörbücher. Factfulness habe ich mir tatsächlich als Hörbuch gegönnt und dann das Taschenbuch bestellt.
Empfehlung: Unbedingt lesen!
Die Chancen stehen nicht schlecht, dass Sie das Buch ohnehin schon gelesen haben. Nicht ohne Grund war es wochenlang auf diversen internationalen Bestseller-Listen. Auf Spotify gibt's das Hörbuch quasi umsonst. Falls Sie es noch nicht gelesen oder gehört haben, möchte ich es Ihnen unbedingt nahelegen. Und Ihrer Familie. Und Ihren Kolleg*innen oder Angestellten und jedem, dem Sie sonst so begegnen. Wenn Sie das erledigt haben, schreiben Sie mir gern hier einen Kommentar oder eine eMail oder rufen Sie an.
Buchtipp: "Alles unter dem Himmel" (Zhao Tingyang)
Wenig überraschend: Als Zukunftsforscher lese ich unheimlich viel. Dazu gehören vor allem die neuesten Studien einschlägiger Forschungsinstitute und einflussreicher Organisationen, wie bspw. von Bundesministerien. Ansonsten lese ich vor allem Sachbücher, die mich wiederum oft auf neue Gedanken bringen, mir neue Perspektiven bieten und vor allem auf Primärliteratur aufmerksam machen, die sonst nicht in meiner Reichweite wäre. Deshalb bin ich auch immer sehr dankbar für Tipps, die nicht aus meinen Fokusgebieten der Soziologie, klassischen Politikwissenschaft und Innovationsforschung stammen. Und deshalb habe ich beschlossen, meinen Zlog auch für Buchtipps zu nutzen – schließlich ist es meine Mission, auch Ihre Perspektiven zu weiten.
Neulich habe ich ein Buch gelesen, welches mein Perspektivendenken sehr herausgefordert hat, da es sich um das Werk eines philosophischen Politikwissenschaftlers handelt. Zhao Tingyang ist einer der wenigen Politikwissenschaftler aus China, die gleichzeitig dort wie auch weltweit angesehen sind.
„Zhao Tingyang ist Professor am Institut für Philosophie bei der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und ist Senior Fellow am Berggruen Forschungsinstitut der Universität Peking. 2019 wurde er vom Nouveau Magazine littéraire zu einem der 35 einflussreichsten Denker der Welt gewählt.“ (Wikipedia)
Sein Buch „Alles unter dem Himmel“ erschien 2020 in deutscher Sprache und ich möchte es allen nahelegen, die sich für „Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“ interessieren, wie es im Untertitel heißt. Und wenn Sie hier auf meinem Zlog unterwegs sind, ist anzunehmen, dass Sie sich für diese Thematik interessieren 😉
Was steht drin?
Zhao Tingyang geht in seinem Hauptwerk mit allen bisherigen Formen politischer Ordnung streng ins Gericht. Alle Herrschaftssysteme der Vergangenheit seien zwar historisch nachvollziehbar und durchaus praktikabel gewesen, doch das habe sich im 21. Jahrhundert geändert. Wir stehen vor Problemen, die einerseits weltweite wechselseitige Verstärkungseffekte entfalten und andererseits zum Teil gerade infolge der Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme der Neuzeit entstanden sind.
Zhao kritisiert also alle historischen Ordnungssysteme. Alle bis auf eines: die sogenannte Tianxia (übersetzt „alles unter dem Himmel“). Sie entstand im historischen China infolge mehrerer Zufälle und bot eine herausragend inklusive und kollaborative Staatsordnung in der Zeit etwa zwischen 1100 und 200 v. Chr. und wird dem Herzog Dan von Zhou im 11. Jahrhundert v. Chr. zugeschrieben. Die Tianxia hielt damit erheblich länger an als die aktuellen modernen westlichen Staaten, deren Gründung überwiegend weniger als 500 (oder im Fall der BRD weniger als einhundert) Jahre zurückliegt.
„Das Tianxia-System der Zhou-Dynastie eröffnete die gedankliche Möglichkeit einer Politik, welche die Welt als Ganzheit zum Ausgangspunkt nimmt“, (Zhao, S. 51).
Das Besondere an der Tianxia: Wenn man von einigen Bestrebungen der Vereinten Nationen absieht, hat sie erstmals und bis heute beispiellos alle Menschen der Welt unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Status gleichgesetzt. Und das Ganze 2500 Jahre vor Aufklärung und Humanismus in Europa. Deren Vordenker und Macchiavelli, Rousseau, Montesquieu, Hobbes, Kant etc. allesamt ziemlich limitierte Ansichten und Menschenbilder vertraten. Interessanterweise scheiterte die Tianxia zu einer Zeit, als vermehrt politische Verbindungen zu entfernten Weltregionen aufgenommen wurden (Han-Dynastie 206 v. Chr. – 220 n. Chr.). Viele Positionen der Tianxia waren ihrer Zeit weit voraus, über die tatsächliche Ausübung wiederum ist leider nicht allzu viel überliefert, aber das macht die Idee an sich ja nicht schlecht.
Meta
Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise in die chinesische Geschichte, die meiner Meinung nach in unseren Breitengraden deutlich unterrepräsentiert rezipiert wird. Immerhin ist die VR China spätestens seit der Finanzkrise 2008 als größte Volkswirtschaft an den USA vorbeigezogen und dominiert zunehmend die globalen Finanzmärkte. Zeit, sich mit dem neuen Primus zu beschäftigen. Zumal es Zhao Tingyang gelingt, herrlich undogmatisch die politikwissenschaftlichen Konzepte der (meist europäisch geprägten) Neuzeit auf den Prüfstand zu stellen, Ideologien nüchtern zu sezieren und die Vorteile einer neuen Weltordnung darzulegen. Das heutige chinesische System wird an wenigen Stellen erwähnt, der Abstand zwischen Gegenwart und Tianxia wird aber zwischen den Zeilen deutlich.
Schließlich: Die „Neotianxia“ sei, so Zhao, das einzige, was die Herausforderungen globalen Maßstabs im 21. Jahrhundert vorantreiben kann. Kooperativ statt kompetetiv. Nationalstaaten und klassische regionale Machtausübung sind dazu nicht imstande. Die Lektüre ist also nicht bloß ganz nett, sondern im Kontext der aktuellen Situation wirklich hilfreich.
Empfehlung: Lesen!
Da ich mich zunehmend mit Systemfragen beschäftige – nachzulesen unter anderem im Newsletter – und mich für einen systemischen, posthumanistischen Weg engagiere, traf das Buch bei mir einen Nerv und beleuchtete einen blinden Fleck. Ich habe es verschlungen. Prädikat: Perspektivenerweiternd!
Ich würde mich freuen, wenn meine Begeisterung Sie neugierig gemacht hat und Sie das Buch in der Buchhandlung Ihres Vertrauens, bei medimops oder Buch7 (mit CO2-Ausgleich) finden und sich ebenso daran erfreuen. Oder aus der Bibliothek ausleihen, wenn Sie keinen Platz mehr im Bücherregal haben. Und dann schreiben Sie gern einen Kommentar, was Sie denken:
- Hat Ihnen das Buch gefallen? An welchen Stellen spüren Sie eher Dissens?
- Kann die (Neo-)Tianxia moderne Probleme lösen?
Foresight Umweltanalyse, oder: STEEP-Analyse 2.0
Aus Projekten für meist wirtschaftliche Akteure kennt man die STEEP-Analyse (ursprünglich mal PEST-Analyse oder auch PESTLE). Sie dient dazu, die Umwelt einer Organisation auf Einflussfaktoren zu analysieren, die das eigene Geschäftsmodell beeinflussen. Das Akronym steht für Sociological (sozio-kulturell), Technological (technologisch), Economical (wirtschaftlich), Ecological (ökologisch) und Political (politisch) - ggf. noch Legal (rechtlich). Es ist zweifellos unheimlich wichtig, das relevante Umfeld zu kennen, bevor man als Unternehmen oder öffentliche Einrichtung Strategien entwickelt - jedoch greifen diese klassischen Modelle viel zu kurz.
Die Komplexität der Welt ist zwar nicht erst mit dem Internet entstanden, doch immerhin hat die weltweite Vernetzung unter anderem dazu geführt, dass neue Akteure allmählich an Einfluss gewonnen haben. Viele von diesen lassen sich nicht ohne viel Argumentation in das klassische Schema einsortieren. Aus diversen Kooperationen weiß ich, dass das auch nicht immer der Fall ist und das stark reduzierte PEST-Schema lange ausgedient hat. Jedoch finde ich es wichtig, ein aktualisiertes Rahmenwerk für Umweltanalyse mit Ihnen zu teilen. Da jede Form der Umweltanalyse viel mit Zukunftsforschung und Foresight zu tun hat, ist dieser Artikel auch nicht so zlog-fremd, wie man vielleicht auch den ersten Blick denken könnte.
WÖ-gewarpt: Die neue STEEP-Analyse
Zunächst ein paar Worte zum generellen Rahmen. Vielleicht sind Sie ein mittelständischer Betrieb irgendwo im Landkreis Böblingen oder Steinburg und haben primär regionale oder nationale Kundschaft. Aber woher kommen eigentlich Ihre Ressourcen? Welche Dienstleister stellen Ihre Bürosoftware her? Woher rekrutieren Sie Ihre Fachkräfte? Und würde es einen Einfluss auf Ihr Geschäft haben, wenn plötzlich und "unerwartet" eine Katastrophe wie Fukushima geschieht oder Krieg ein mit globaler Bedeutung beginnt? Wenn Sie jetzt "ja" dachten, ist der Rahmen gesteckt.
Der Rahmen: Von ganz außen nach ganz innen
Die größte Grenze ist nichts weniger als unser Planet (astronomische Ereignisse schließe selbst ich aus). Nicht zuletzt durch die Vernetzung im Internet kann sogar ein Influencer auf Instagram einen Anteil daran haben, dass die Nachfrage Ihrer Produkte sich verändert. Damit ergibt sich in etwa folgendes Bild:

Wenn wir also annehmen, dass der größtmögliche beeinflussende Raum die Welt ist, kaskadieren wir dies einmal herunter bis zu unserer Organisation. Zwischendurch kommen wir vorbei am politischen und wirtschaftlichen Rahmen, bspw. die Europäische Union, ein transnationales Handelsabkommen oder die Afrikanische Union. Die nächstkleinere Einheit ist unsere Branche bzw. Industrie, wobei natürlich auch hier gesagt sei, dass diese Trennlinie zunehmend schwer zu ziehen wird. Und schließlich sitzen wir mitten in der Organisation.
9 externe Meso-Ebenen: WÖ-GEWARPT
Die neun analytischen Bereiche, die ich auf der Meso-Ebene als Kategorisierung vorschlage, sind:
- Wirtschaft: Markt, Börse, Nachfrageseite / Kunden (u.a. Kaufkraft, Motive, Konsumbereitschaft, Gesundheit / Bedürfnispyramide), Angebot, Wettbewerb, Lieferanten, Ressourcen / Verfügbarkeit, Vertriebskanäle (v.a. digital vs. analog), Währungskurse, neue Wirtschaftsmodelle wie Kreislaufwirtschaft oder Co-Creation …
- Ökologie: Umwelt, Klima, Wetter, Flora, Fauna, Umweltkatastrophen …
- Gesellschaft: Werte, Lebensstil, demographische Einflüsse, Subkulturen, NGOs …
- Ethik: Moral, praktische und normative Philosophie, gesellschaftliche Normen …
- Wissenschaft: Paradigmen und naturwissenschaftliche "Gesetze", Grundlagenforschung, fachliche Diskurse, Promotionsschriften, Wissenschaftliche Veröffentlichungen …
- Administration / Regulation: Bürokratie, Zollbestimmungen, Gesetze, Urteile, Prozesse, Steuern, Normen …
- Recht: Prozesse, Sanktionen, Präzedenzurteile …
- Politik: Politische Mehrheiten, Einfluss- und Machtverteilung der Interessen, Embargos, geopolitische Lage, Demonstrationen, Kriege und Konflikte, supra- und internationale Organisationen …
- Technologie: Forschung, neue Produkte und Prozesse, Patente, Gebrauchsmuster …
Beispiele spare ich mir an dieser Stelle, das würde den Rahmen sprengen. Das Prinzip ist klar: in den jeweiligen Bereichen suchen wir nach Trends und Treibern, die wir als relevant einstufen für unser Ziel.
Leider ist das neue Umweltanalyse-Akronym nicht mehr so sexy wie STEEP. Nach langer Puzzlearbeit ist mir nichts besseres eingefallen als "WÖ-GEWARPT" - das hat wenigstens für die Trekkie-Fans einen Zukunftsbezug. Und es deckt sehr viel mehr analytische Ebenen ab als eben die übertrieben komplexitätsreduzierten Modelle der 1980er Jahre.
Interne Mikro-Ebene (Organisation, Unternehmen, Individuum)
Danach kommen wir auf der Mikro-Ebene an. Hier geht es um:
- Entscheidungs-/Management-Ebenen, Eigentümer, Angestellte, ggf. Aktionäre, Aufsichtsgremien ...
- Geschäftsmodell, Stakeholder- oder Shareholder-Beziehungen, strategische Vorgaben, Kultur, Vision ...
- Eigene Denkmuster, kognitive Verzerrungen ("bias"), Glaubenssätze, Gewohnheiten ...
Dies ist der schwierigste Teil. Schon als Individuum fällt es vielen schwer, sich selbst zu reflektieren, dazu braucht man die eigenen Softskills, einen ehrlichen Freundeskreis und vielleicht sogar Coaches oder Therapeuten. Bei Organisationen wird es dann noch komplizierter. Natürlich steht an vielen Stellen der Zweck und das Ziel einer Organisation. Aber wofür steht Ihr Unternehmen, Ihre Behörde, Ihre Abteilung oder Ihr Team wirklich? Ich habe es noch nie erlebt, dass in einer Workshop-Situation mit Geschäftsführung oder Vorstand alle einer Meinung waren, wenn es um die Definition ihres Kerngeschäfts geht. Wenn nicht einmal die Unternehmensleitung das weiß, wie sollen es dann die Mitarbeiter wissen? Es gibt viele Baustellen auf dem Weg zur purpose-driven organization...
Einfluss und Relevanz
Natürlich müssen wir an dieser Stelle bewerten, wie einflussreich und relevant ein identifizierter Einflussfaktor für das Forschungsobjekt ist. Ist die Übernahme eines Wettbewerbers durch einen großen Konzern relevant für uns? Hier bietet es sich an, eine Skala von 0-5 zur Bewertung heranzuziehen. Später kann man diese Werte in einem Szenarioprozess gut im Schritt der Konsistenzbewertung wieder aufgreifen, wenn es darum geht, die mögliche Koexistenz der gefundenen Einfluss- oder Schlüsselfaktoren untereinander zu kombinieren.
Zeit
Bei der klassischen STEEP-Analyse wird ein wichtiger Faktor vernachlässigt: Zeit. Da Zukunftsforscher praktisch Zeit-Spezialist*innen sind, müssen wir an dieser Stelle natürlich nachbessern. In welchem Zeitraum wird ein möglicher Einflussfaktor seine Wirkung entfalten? Ab wann lohnt es sich vielleicht, "Management Attention" darauf zu verwenden? Ist ein gefundener Faktor vielleicht sogar schon weniger relevant als noch vor einem Jahr? Üblich ist hier die Einteilung in vier Kategorien:
- 1-2 Jahre: kurzfristig relevant, hier geht es eher um taktische Erwägungen.
- 2-5 Jahre: mittelfristig relevant, hier wird die Strategie der Organisation berührt.
- 5-10 Jahre: längerfristig relevant, da gibt es schon eher Schnittmengen mit der Vision.
- 10+ Jahre: langfristig relevant, wenn wir bspw. über die Besiedelung des Mars oder Gehirnimplantate philosophieren.
Je nach Organisationsform und Branche können diese Angaben natürlich variieren, für die Forstwirtschaft sind beispielsweise Zeiträume von 50+ Jahren und den entsprechenden Abstufungen wichtiger als für einen Heizungsbauer. Wichtig ist, dass wir der abnehmenden Gewissheit von Aussagen Rechnung tragen, je weiter wir uns auf dem Zeitstrahl von der Gegenwart entfernen. Ich werde nicht müde zu betonen: wir können die Zukunft nicht vorhersagen, sondern müssen stetig Daten über die Gegenwart und Vergangenheit sammeln, um wenigstens die Unsicherheit für den kurzfristigen Prognosezeitraum zu reduzieren.
STEEP 2.0 - WÖ-gewarpt als Analyserahmen
Schließlich ergibt sich folgendes Bild für die Analyse der Einfluss- und Schlüsselfaktoren:

Außen vor, aber implizit dabei: Wildcards, Megatrends, Gegentrends
Was ich in dieser schematischen Betrachtung bewusst ausschließe, darf implizit nicht vergessen werden. Daher hier ein paar Gedankenanstöße von Themen, die Sie auf dem Schirm haben sollten:
- Wildcards: zum Beispiel ein Meteoriteneinschlag, die Entdeckung der Kalten Fusion, ein Super-GAU (z. B. der Zusammenbruch der Stromversorgung), der Zusammenbruch politischer Systeme (ich tippe auf die Spaltung der USA), Free Energy, Terroranschläge, Tod eines wichtigen Regierungs- oder Staatschefs, Supervulkane, Kältetod des Golfstroms, Revolutionen, eine Pandemie (Covid-19 war kein schwarzer Schwan!), Kontakt zu intelligenten Außerirdischen. Es geht also um ziemlich unwahrscheinliche Ereignisse, die aber bei ihrem Eintreten einen großen Einfluss auf uns hätten. Muss man nicht explizit in jede Strategierunde einbringen, aber für Risikobewertungen schon einmal durchdacht haben.
- Megatrends: Globalisierung, Politik- und Technologiekonvergenz, Digitalisierung, Urbanisierung, Klimawandel, Nachhaltigkeit, demographischer Wandel, Individualisierung, Gesundheit, Aufstieg der Schwellenländer (insb. BRICS, Nigeria, Irak, Philippinen, Vietnam und Ägypten - 6 davon werden 2050 zu den 7 größten Volkswirtschaften gehören), New Work. Sie kennen das ja. In Megatrends versammeln sich hunderte Mikro-, Meso- und Makrotrends. Die wiederum werden von Akteuren getrieben. Ein Megatrend hilft uns bei der Umweltanalyse genau gar nicht, aber als Gedankenrahmen ist er hilfreich, um nichts zu vergessen - manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.
- Gegentrends: Deurbanisierung, Entzauberung von Digitalisierung (Platzen der KI-Blase), Ende des Konsumismus, Sozialisierung, Geburtenboom. Fragen Sie sich kurz: Was könnte dazu führen, dass ein Mega- oder Makrotrend gestoppt wird. Unabhängig von der Wahrscheinlichkeit, die man für zukünftige Ereignisse sowieso nicht berechnen kann, spielen Sie die Konsistenz dieses Gedankengangs durch. Et voilà: Schon können Sie sich Gedanken darüber machen, was wäre, wenn plötzlich Menschen nicht mehr in Großstädten leben wollten und was das für Ihr Geschäft bedeuten könnte. Das halte ich übrigens für einen der Trends, der durch Corona beschleunigt wurde, aber das nur nebenbei.
Wenn Sie mehr über die Umweltanalyse im praktischen Foresight-Einsatz erfahren möchten, schreiben Sie mir am besten eine Email. Dieser praktische analyserahmen bietet sich für kleine Workshops mit Führungskräften an, um eine belastbare Grundlage für die strategische Vorausschau zu erarbeiten.
10/2020: Zukunft: Eine Frage der Perspektive (Hannoversche Volksbank)
Am 6. Oktober 2020 habe ich für die Privatkunden der Hannoverschen Volksbank einen Ausflug in die Zukunft gewagt. Oder eher Zukünfte? Ein bunter Themenmix aus Mobilität, Gesundheit, künstlicher Intelligenz und Gehirn-Implantaten erwartet Sie. Und ganz wichtig: Warum sind die unterschiedlichen Perspektiven auf Zukünfte so wichtig? Was kann uns dabei helfen, angesichts der erschreckenden Entwicklungen auf dem Planeten Zuversicht zu bewahren? Finden Sie es heraus in meinem Vortrag „Zukunft: Eine Frage der Perspektive“!
Sie planen auch ein Event und möchten mich als Impulsgeber für Ihre Kunden, Mitarbeiter oder Mitglieder buchen? Kein Problem, schreiben Sie mir gern direkt Ihre Anfrage:
10/2020: Smart Buildings: Die Retter unserer Welt?!
Am 2. Oktober 2020 war ich im Webinar von Heuer Dialog & YARDI zu Gast. Ich habe dort einen ganz kurzen Impuls gegeben, um das Thema der Immobilien- und Baubranche im Umbruch kurz zu skizzieren. Anschließend habe ich darüber diskutiert mit Dr. Susanne Hügel, Head of Digital Innovation & Business Acceleration Continental Europe, CBRE GmbH und Matthias Thomas Muench Münch, Regional Manager Sales D-A-CH, Yardi Systems GmbH. Sehr kurzweilig! Weitere Themen unserer Diskussion waren:
- Gesellschaftliche Dynamik: Snowden-Parties für mehr Datenschutz, Fridays for Future, Anti-Corona-Demos – was weiter?
- Corona-Krise als großer #Systemcheck – Sind unsere Ansätze und Prozesse durch fehlende #Digitalisierung gekennzeichnet?
- Kann #Technologie helfen Gebäude besser und mit mehr Sicherheit für Nutzer zu betreiben?
- Die „neue“ Arbeits- und Lebenskultur – Welche Anforderungen und Erwartungen sind mit der Immobilie verbunden?
Wer nicht dabei sein konnte, kann sich hier die gesamte Stunde ansehen. Meinen Impuls sehen Sie von Minute 2:05 bis 20:59. Die spannendste Stelle zum Thema Smart Building diskutierten wir ab Minute 29:53. Viel Spaß beim Zuschauen!
Siehe auch:
10 Veränderungen nach Corona
Wissen Sie noch, was Sie am 12. März 2020 nachmittags gemacht haben? Ich war in einem Yamaha-Geschäft und habe diverse Klaviere ausprobiert. Eigentlich wäre ich in Wiesbaden bei der Aufsichtsratssitzung einer großen deutschen Versicherungsgesellschaft mit einer Keynote über zukünftige Lebens- und Arbeitswelten aufgetreten. Doch die Veranstaltung wurde wenige Tage vorher storniert. Dieses Storno wird nicht das letzte gewesen sein. Genauer gesagt hatte ich seit Anfang März überhaupt keinen physischen Bühnenauftritt mehr ☹. Dafür habe ich in meiner Wohnung ein tolles E-Piano stehen, das ich im Übrigen letztlich doch online bestellt habe. 😊
Warum ich Sie nach Ihrer Erinnerung frage, muss ich wohl nicht erklären. Das große C-Wort geht Ihnen doch sowieso schon auf die Nerven. Das kann vielfältige Gründe haben. Vermutlich leiden Sie oder Ihre Organisation wirtschaftlich unter den Auswirkungen der Pandemie und den Maßnahmen zur Eindämmung derselben. Oder Sie fühlen sich überfordert durch die Mehrbelastung von Job und Familie. Oder Sie haben das ganz große Los gezogen und wurden als systemrelevant eingestuft, haben Applaus geerntet, hatten aber weder Zeit noch Verständnis, diese Geste wertzuschätzen. Ihnen wäre Sonderurlaub und eine signifikante Gehaltserhöhung lieber, doch Sie sind ja intrinsisch motiviert und kümmern sich auch so um Ihre Patient*innen oder Kund*innen.
Der Blick zurück: Chronologie der Pandemie
Der 12. März 2020 wird wohl als Schwarzer Donnerstag in die Geschichte eingehen. Es war der Tag, an dem die Erde den Atem anhielt, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Ausbruch von COVID-19 zur Pandemie erklärte. Seitdem ist alles anders und wir leben im „neuen Normal“. Oder?
In meinem Artikel vom 24. März „Corona-Chance statt Corona-Krise” habe ich einige Einschätzungen über den Verlauf der Pandemie und deren Auswirkungen auf das „neue Normal“ geteilt. Der Anlass war, dass ich von immer mehr Medien zu Interviews nach meiner Perspektive gefragt wurde. In dem Artikel habe ich in erster Linie auf die positiven Nebeneffekte hingewiesen, darunter Entschleunigung durch den Lockdown und erhöhte Achtsamkeit. Ich habe – anders als in den Interviews mit Presse, Funk und Fernsehen – darauf verzichtet, den Anstieg der Gewalt und Orientierungslosigkeit abgehängter Bevölkerungsteile zu thematisieren. Warum? Weil Schrift geduldig ist und insbesondere „Prognosen“ in meinem eigenen Zlog auch nach vielen Jahren noch lesbar sein werden. Eine immense Herausforderung für Zukunftsforschende ist es, die eigenen menschlichen Instinkte beim Blick auf große Veränderungen zu ignorieren und stattdessen nach Mustern zu suchen. Das ist es, was ich mit den Perspektiven meine.
Hinzu kommt, dass insbesondere Zukunftsforscher*innen mit der hohen medialen Aufmerksamkeit eine immense Verantwortung tragen. Heißt im Klartext: Wenn Sie überwiegend Schattenseiten von Veränderungen medial vermittelt bekommen, werden Sie selbst gestresst und pessimistisch, was wiederum zu wenig zuversichtlichem Verhalten führt, was letztlich die Prophezeiungen erfüllt. Über diese oft unterschätzte Verantwortung habe ich Anfang August ebenfalls einen Artikel geschrieben – über (Fehl-)Prognosen und Verantwortung. Dabei bin ich auch ungewöhnlich streng mit meiner Branche ins Gericht gegangen. Aber was hat sich denn nun verändert – und welche Veränderungen stehen höchstwahrscheinlich noch bevor?
Der Blick nach vorn: 10 Veränderungen nach Corona
Wenn man von den offensichtlichen Veränderungen absieht – Menschen tragen Masken, die Wirtschaftsleistung und das globale BIP haben eine starke Delle erlitten, häusliche Gewalt ist angestiegen und die Zahl der Covid19-Opfer steigt ebenso wie die Wahrscheinlichkeit einer zweiten Welle –, sehe ich meine Aussagen zu grundlegenden Veränderungen bestätigt. Die globalen Lebens- und Arbeitswelten haben sich bereits schneller als gewöhnlich verändert. Zehn Beispiele:
1. Bewusstsein für Klimakrise nimmt zu

Die Bilder aus China gingen um die Welt. Insbesondere Ballungs- und Industriezentren waren auf den Satellitenbildern der NASA kaum wiederzuerkennen. Was hier zu sehen ist, zeigt unleugbar den massiven Effekt des Verkehrs und industrieller Anlagen auf die Entwicklung von Feinstaub, CO2 und NO2 – die wiederum das Klima unseres Heimatplaneten zusehends aus der Balance bringen. Die globale Bewegung der #FridaysForFuture und anderer Klimaaktivisten fand damit neues Futter für ihre berechtigten Proteste. Natürlich wurden nicht sofort Maßnahmen beschlossen, immerhin hatte man gerade einen anderen Brand zu löschen. Doch immer weniger Regierungen und Wirtschaftsakteure können sich nun noch dem Befund widersetzen, der immer offensichtlicher zur größten Herausforderung unseres Jahrhunderts anschwellt: der menschengemachte Klimawandel. Großbrände, ungewöhnlich heftige Stürme, Temperaturkapriolen, Artensterben, Verwüstung und Nahrungsmittelengpässe rund um den Globus mobilisieren immer mehr Menschen der Zivilgesellschaft und auch der Politik, auch #ScientistsForFuture und #EntrepreneursForFuture haben sich der Bewegung zur Rettung des Planeten angeschlossen. Der Umbau zu einer postfossilen Wirtschaft ohne das Verbrennen von Öl und Kohle rückt in greifbare Nähe - dazu gehören außerdem eine massive Umschulungsrevolution, Verluste in Billionenhöhe an den weltweiten Märkten, geopolitische Spannungen zwischen Öl-Import- und Export-Nationen, aber eben auch eine Energierevolution mit großen Schritten hin zu Erneuerbaren Energien. Nach den 2020ern wird dann das Thema "kostenlose Energie" eine immer größere Rolle spielen, aber das muss uns heute noch nicht kümmern.
2. Geschlechtergerechtigkeit nimmt zu
Staaten mit weiblichen Regierungschefinnen verzeichnen signifikant weniger Sterbefälle durch Covid-19. Das sind vor allem Neuseeland (Premierministerin Jacinda Ardern), Deutschland (Kanzlerin Angela Merkel), Dänemark (Ministerpräsidentin Mette Frederiksen) und Finnland (Ministerpräsidentin Sanna Marin). In männlich regierten Staaten sterben 4,3-mal mehr Menschen am Virus (zur Studie). Es zeigt sich, dass in diesen Ländern öffentliche Gesundheit über die Interessen der Wirtschaft gestellt wurden. Dies wird langfristig die Geschlechterungerechtigkeiten ebnen, da aus humanistischer Perspektive das Wohlbefinden der Menschen einen höheren Stellenwert einnimmt als partikulare Interessen des Kapitalismus. „We should all be feminists“ lautet die Losung dieser Tage.
3. Neohumanismus wurde geboren
Es bildet sich allmählich eine starke Allianz des Neohumanismus, die einer schwindenden Gruppe konservativer, exklusiver Gruppen gegenübersteht. Der Gipfel dieser Spannungen ist der Disput um die prekäre Lage geflüchteter Menschen auf der griechischen Insel Lesbos und dem Lager in Moria. Vergleichbar mit dem Ansatz "Homo Amor" könnte all dem Hass, der Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz gegenüber anderen Kulturen langsam ein Verständnis für eine erstrebenswerte Zukunft aller Menschen unter dem Himmel Einzug halten. Das wäre dann ein Update des Humanismus aus der Epoche der Aufklärung.
4. Neue Zeitrechnung: n. Co. statt n. Chr.
Die ersten Menschen haben begonnen, die klassische Zeitrechnung, die sich auf die Geburt des christlichen Messias Jesus Christus bezieht, infrage zu stellen. Anstatt den 13. September 2020 anzugeben, spricht man vom Jahr 0 nach Corona oder kurz. Interessanterweise verbirgt sich dahinter auch eine säkulare Bestrebung vieler Menschen, die Zeitrechnung von der Weltreligion zu entkoppeln. Wenn sich dieser Trend durchsetzt, müssten alle Geschichtsbücher neu geschrieben werden – die französische Revolution fand im Jahr 231 v. Co. statt, der Zweite Weltkrieg endete 75 v. Co., Christoph Kolumbus „entdeckte“ Südamerika im Jahre 528 v. Co. und der zentrale Prophet der Christen wurde eben 2020 v. Co. geboren. In welchem Jahr wurden Sie geboren?
5. China gewinnt, Isolierung führt zu Machtverlust
Die Abschottung einzelner Staaten im Zuge des Lockdowns hat die diplomatischen Beziehungen weniger als befürchtet verändert, im Durchschnitt sogar positiv. Inter- und supranationale Kooperation stellt sich mehr und mehr als erfolgreiches Modell heraus. Der Gegenstrom exklusiver, protektionistischer und bedrohender Politik zeigt seine Auswüchse gerade in den USA, deren demokratische Basis gerade vor den Augen der Welt zerschmettert wird. Eins der wahrscheinlichsten Szenarien geht davon aus, dass China schon sehr viel früher als erwartet die USA als Weltprimus ablösen wird.
6. Beyond Homeoffice: Demokratisierung der Arbeitswelt
Natürlich hat das massenhafte Homeoffice diese Entwicklung verstärkt. Homeoffice wiederum finde ich aus der organisationskulturellen Perspektive viel spannender; selbst Organisationen, die ihre Mitarbeiter vor Corona unter keinen Umständen von zuhause oder unterwegs arbeiten lassen wollten, konnten plötzlich ganz schnell umstellen. Immerhin ging es um den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens – das Kurzarbeitergeld hat man natürlich trotzdem gern mitgenommen. Der Großteil ist leider nach den ersten Lockerungen wieder komplett zurückgerudert. Doch die Angestellten sind auf den Geschmack gekommen, fordern via Betriebsrat und Gewerkschaft ein Recht auf Telearbeit. Insofern schließt sich hier die Klammer zwischen Digitalisierung und New Work, welche beide durch Corona massiv beschleunigt wurden (auch wenn New Work natürlich viel mehr als Homeoffice ist, aber das ist hier nicht Kernthema).
7. Die 2020er gebären den Postkapitalismus
Das Wirtschaftssystem aus Makroperspektive ist erst seit wenigen Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrzehnten in seiner heutigen Form. Kapitalismus und soziale Marktwirtschaft haben uns Globalisierung, regionalen Reichtum und Vernetzung beschert – doch schon merken wir als Spezies, welche Geister wir riefen. Während einerseits die Profite einzelner Akteure, Gebiete oder Staaten kontinuierlich steigen und die umliegenden Bevölkerungen immer weiter von „oben“ entfernt sind (messbar am Gini-Koeffizienten, auch „Einkommensschere“ genannt), suchen findige Technologen und Milliardäre nach Möglichkeiten, andere Planeten zu besiedeln. Die wissen schon, warum. Andere arbeiten an Lösungswegen, unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem an die modernen Begebenheiten anzupassen. Prof. Dr. Niko Paech dürfte der bekannteste deutsche Vertreter einer Postwachstumsökonomie sein, die mitunter auch Postkapitalismus genannt wird – hierzu habe ich einen Beitrag fürs „HR Consulting Review“ unter Federführung von Prof. Dr. Jens Nachtwei von der Berliner Humboldt Universität geschrieben (erscheint bald). Klar ist: Kapitalismus funktioniert gut, lässt aber wichtige Umweltfaktoren außer Acht. Und: die Regeln an den Märkten müssen sich diesen Rahmenbedingungen anpassen und bspw. ökologische und soziale Umweltfaktoren der gesamten Wertschöpfungskette berücksichtigen. Die derzeitige Form des Kapitalismus wird die 2020er Jahre in Summe nicht überleben, wenn wir als Spezies überleben wollen.
8. Wohlstandsverteilung wird dezentralisiert
Das globale Finanz- und Geldsystem wird derzeit einer gehörigen Zerreißprobe unterzogen. Bargeld wird zunehmend als Überträger von Viren und Bakterien konnotiert, Menschen (sogar in Deutschland!) lernen die Vorzüge kontaktloser Bezahlung kennen und reagieren inzwischen empört, wenn ein Restaurant oder Kiosk keine Kartenzahlung akzeptiert. Ökonomen sind sich uneins, ob wir auf Bargeld verzichten können; Bürger*innen hadern mit der gefühlt erhöhten Transparenz ihrer Ausgaben; Schmiergelder werden auch heute noch in den allseits bekannten Aktenkoffern in kleinen Scheinen transportiert. Auf der anderen Seite sind in den letzten Monaten die Kurse einschlägiger Kryptowährungen wie Bitcoin, Ethereum oder MIOTA gestiegen. Mehr Menschen probieren die digitalen Münzen aus und unterwandern damit das klassische Geldsystem – dabei schmeckt die mit Bitcoin bezahlte Pizza von Lieferando genauso gut, wenn nicht besser. Große Wirtschaftsräume (darunter die EU und China) bringen eigene Kryptowährungen auf den Weg. Hinzu kommen die erwartbaren Schwankungen an den Börsen, noch mehr Kursveränderungen, Käufe und Verkäufe in atemberaubender Geschwindigkeit. Es kann nicht mehr lange dauern, bis echte Börsentransaktionssteuern eingeführt werden. Damit hätten wir es mit einem historischen Schritt hin zu dezentralisierten, gerechteren Verteilungsmechanismen von Geld mit globalem Maßstab zu tun.
9. Digitale Transformation beschleunigt Zerfall alter Industrien
Digitalisierung hat einen Turbo erhalten. Die größten Gewinner der Pandemie sind Technologieunternehmen, die weltweit Hunderttausende ungeplante Geräte produzieren mussten, um den Bedarf der isolierten Bevölkerung zu decken. Automatisierung von Tätigkeiten ist schlagartig wieder auf die Agenda vieler Unternehmen und Behörden gerückt, da Menschen aus Gründen der Sicherheit einige Aufgaben schlicht nicht mehr ausführen konnten. Insbesondere die Automobilindustrie hat es hart getroffen, einer der größten Zulieferer der Welt mit Sitz in Deutschland hat unlängst geplante Stellenstreichungen in fünfstelliger Höhe bekannt gegeben. Auf der anderen Seite hat sich das schlechte Urteil der Zeitgemäßheit unseres Gesundheits- und Bildungssystems bewahrheitet. Auch die globalisierten Wertschöpfungsketten sind offensichtlich nicht pandemiefest, weshalb ein unaufhaltsamer Relokalisierungstrend eingesetzt hat. Dies wiederum wird die Preisgefüge ordentlich durcheinanderbringen.
10. Agilität gewinnt den Kampf um das perfekte Management
Organisationen haben in Summe verstanden, dass starre Organisationsformen gegen externe Schocks nicht nur schlecht, sondern überhaupt nicht gefeit sind. Die zwei wichtigsten Konsequenzen daraus: Organisationen stellen immer mehr auf agile(re) Strukturen und Projekte um (Mikroebene), was den Wettbewerb innerhalb von Branchen anheizt und vom Markt hin zum Geschäftsmodell treibt (Mesoebene) und schließlich in einem veränderten Wirtschaftssystem gipfeln wird (Makroebene).
Puh. Das war viel. Und es war erst der Anfang. Mir wurde gesagt, meine Artikel sind manchmal grenzwertig lang, aber so ist das mit der Zukunft bzw. Zukünften: Sie sind komplex und wir machen es uns sehr oft zu leicht, wenn wir diese Komplexität aus Bequemlichkeit reduzieren.
Der Blick nach Innen: Wie geht es für Sie weiter?
Man könnte über die Veränderungen und Kontinuitäten ganze Bücher schreiben – doch in dem Moment, in dem das Buch dann aus dem Druck kommt, sind die Grundlagen der Prognosen bereits veraltet. Daher möchte ich Sie auch vorsichtig vor kürzlich erschienenen Büchern über die Welt nach Corona warnen. Die können allenfalls als Unterhaltungsliteratur dienen. Aber gründen Sie bitte keine Strategien oder andere weitreichende Entscheidungen auf ihnen.
Sehr wohl lohnen sich jedoch spezifische, tiefgründige Analysen einzelner Aspekte des Wandels. Somit möchte ich zum Ende dieses Artikels einmal mehr für wissenschaftliche Zukunftsforschung werben. Zudem möchte ich Sie einladen, meine unabhängigen Forschungsergebnisse für sich zu nutzen. Das kann über folgende Formate geschehen:
- Keynote: In meinen Vorträgen liefere ich Ihnen Insider-Wissen über aufkommende Trends und vermittle komplexe Zusammenhänge auf unterhaltsame Weise. Die Themen reichen von „zukünftigen Lebens- und Arbeitswelten“ über die in diesem Artikel skizzierten Entwicklungen rund um die Frage, wie es nach Corona weitergeht, bis zu speziellen Trend-Vorträgen über Künstliche Intelligenz, New Work oder Innovationsmethoden. Erfahren Sie mehr über meine Vorträge.
- Texte: Für Ihr Mitarbeiter- oder Kundenmagazin schreibe ich fundierte Artikel zu einem Thema Ihrer Wahl. Erfahren Sie mehr über meine Autorenbeiträge.
- Foresight: Sie planen eine Zukunftsstudie, beispielsweise unter Einsatz der Delphi- oder Szenariomethode und benötigen erfahrene Zukunftsforscher? An dieser Stelle helfe ich in Form von Prozessberatung oder methodischer Durchführung. Erfahren Sie mehr über meinen Forschungsansatz.
- Coaching: Einzel- oder Gruppengespräche, um Sie besser mit den Grundlagen der Zukunftsforschung sowie den diversen Mehrwerten für sich und Ihr Unternehmen vertraut zu machen.
Schreiben Sie mir einfach eine Mail und wir finden eine Lösung.
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Vieles aus diesen Einschätzungen habe ich auch im EU Strategic Foresight Report 2020 gelesen. Diese Lektüre möchte ich Ihnen gern ans Herz legen.
Das Ende der Globalisierung?!
Im Juni habe ich mir ein Lesezeichen für eine Studie von Prognos AG und BayernLB gesetzt: "Das Ende der Globalisierung - braucht Deutschland ein neues Geschäftsmodell? Wie Unternehmen jetzt die Weichen richtig stellen". Diese ist meiner Meinung nach untergegangen, aber dafür gibt es natürlich gute Gründe. Nennen wir es das C-Argument. Da die Studie aber wirklich wichtig ist, möchte ich dazu meine Zukunftsforscher-Einschätzung teilen.
Kernaussage der Studie ist: Deutschland braucht ein neues Geschäftsmodell und das "Ende der Globalisierung" sei erreicht. In der Studie werden natürlich auch Wege aus dem Dilemma besprochen, die Lektüre empfehle ich nachdrücklich. Nun aber zu meiner pointierten Einschätzung.
Zustimmung: Deutsche Unternehmen verschlafen den Wandel
Unternehmen in Deutschland sind durchschnittlich zu konservativ, zu unambitioniert und neigen zu blinder Pfadabhängigkeit, wenn es um ihre langfristigen Strategien geht. Nach dem Motto "haben wir schon immer so gemacht!" konzentriert man sich hierzulande gern an den bestehenden Lieferantenbeziehungen und Absatzmärkten (sorry für die Plattitüde, das trifft sicherlich nicht auf alle zu - hier schreibe ich über die träge oder angsterstarrte Mehrheit). Diverse Studien und Dossiers attestieren und bemängeln, dass Digitalisierung in Deutschland nach wie vor auf Kosten der nationalen Wirtschaftsleistung und des BIP stiefmütterlich behandelt wird, vor allem zulasten des internationalen Wettbewerbs um die Vorherrschaft der digitalisierten Weltökonomie.
Ein Beispiel: Oft ist die Rede davon, dass wir bereits die zweite Halbzeit der Digitalisierung verloren hätten. Das klingt so, als wäre das Spiel bereits vorbei - das ist nicht ganz richtig. Es verdeutlicht aber anhand der klassischen Rasensportmetapher, dass "wir" nicht mehr gewinnen können. Diese Befürchtung teile ich, wenn man "normale" Rahmenbedingungen voraussetzt und die Gewinnbedingungen klar definiert. Aber: Wie wir alle wissen, sind diese aber im Jahr 1 nach Corona die Spielregeln andere als gewöhnlich, weshalb sich die wissenschaftliche Zukunftsforschung aktuell mit Prognosen zurückhält und primär (oft normative) Szenarien formuliert. Ebenso werden auch die Karten in puncto Digitalisierung neu gemischt. Insbesondere die ohnehin bereits vorreitenden Hightech-Konzerne nutzen die Ausnahmesituation, um ihre Produkte und Lösungen in noch mehr Märkte zu bringen und Steueroasen noch rücksichtsloser auszunutzen. Und an der Stelle wird deutlich, dass der Vorsprung dieser Giganten, die ich gern mit den beiden Akronymen G-MAFIA (Google/Alphabet, Microsoft, Apple, Facebook, IBM, Amazon) und BAT (Baidu, Alibaba, Tencent) abkürze, Globalisierung besser verstanden haben als etwa deutsche Unternehmen. Diese neun Unternehmen investierten bereits vor der Covid19-Krise teilweise mehr Geld in die Entwicklung Künstlicher Intelligenz als die Bundesrepublik Deutschland; glauben wir dem Mooreschen Gesetz der exponentiellen Effizienzsteigerung der IT, verdoppelt sich der Vorsprung der Maschinen (und hier sehe ich auch KI-Algorithmen und deren Leistung) etwa alle zwei Jahre. Das bedeutet, dass sich der Vorsprung des internationalen Wettbewerbs ebenfalls exponentiell vergrößert, je länger Unternehmen hierzulande warten.
Also: Höchste Zeit für Veränderung!
Ablehnung: Globalisierung hat gerade erst begonnen!
Der Titel der Prognos-Bayern LB-Studie "Das Ende der Globalisierung" erinnert sicherlich nicht durch Zufall an das Buch von Francis Fukuyama "Das Ende der Geschichte", das nach dem Zusammenbruch der UdSSR herauskam und den Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus proklamierte. Danach kam alles anders, wie wir wissen, und die Geschichte war natürlich nicht zu Ende. Auch nicht die Auseinandersetzung konfligierender Wirtschaftsordnungen. Ebenso wenig ist das Ende der Globalisierung erreicht (selbstverständlich ist das auch nicht die einzige Aussage der hier behandelten Studie).
Erstens sollte die Kernaussage der Studie vielmehr sein, dass die klassischen Absatzmärkte und Erlösströme insbesondere für die deutsche Wirtschaft deutliche Anzeichen einer Sättigung zeigen. Hinzu kommt, dass der Anteil intangibler Produkte (Lösungen, Dienstleistungen und digitale Geschäftsmodelle) ungebremst ansteigt. Und, was der deutschen Erfinderseele Kopfzerbrechen bereitet: die wertvollsten Geschäftsmodelle der letzten Jahrzehnte wurden allesamt außerhalb Deutschlands entwickelt und höchstens hier kopiert. Einige behaupten sogar provokant, dass seit der Entwicklung des Automobils keine größere, wertvolle Erfindung mehr aus Deutschland kam. Kennen Sie ein Gegenbeispiel?
Zweitens ist die Globalisierung natürlich nicht am Ende. Auch wenn dies der Titel lediglich suggerieren soll und der Volltext der Studie besser aufklärt, möchte ich hier vehement widersprechen. Nur weil die klassischen Absatzmärkte der "Ersten Welt" gesättigt sind und die deutschen Produkte keinen Anklang mehr finden, heißt das noch lange nicht, dass die Nachfrage weltweit gedeckt ist. Aufstrebende Ökonomien (insb. Indien, Irak, Philippinen, Vietnam und Ägypten) verzeichnen einen stark steigenden Bedarf an Produkten und Lösungen der zweiten und dritten Industrie-Zeitalter. Einige von ihnen wiederum haben den Begriff Leapfrogging bzw. Reverse Engineering geprägt: Zwischenschritte der technologischen Entwicklung werden schlicht übersprungen. So verfügen einige afrikanische und südostasiatische Staaten kaum über klassische Überland-Telefonverbindungen, Einwohner*innen können jedoch über Handys und Smartphones aufs mobile Netz zugreifen. Außerdem ist die Globalisierung der Wirtschaft nach klassischer Lesart noch lange nicht beendet, man muss sich nur die Entwicklung von IoT- (Internet der Dinge) und Smart City-Lösungen ansehen. Schade, dass auch hier nur wenige deutsche Unternehmen in der ersten Reihe tanzen.
Drittens würde ich weniger vom Ende der Globalisierung als vom Ende des Kapitalismus in seiner jetzigen Form sprechen. Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er sich durch Krisen eher mithilfe von "Mutationen" an die neuen Gegebenheiten anpasst. Er ist sozusagen agiler als kommunistische oder sozialistische Modelle, die bislang an der Realität gescheitert sind. Was wir jetzt nicht brauchen, ist ein Erstarken der kommunistischen Idee - immerhin stammt diese aus der Zeit vor der Globalisierung, welche wir aber nicht mehr zurückdrehen können und daher mit dem alten Welt-Entwurf eher in die vorindustrielle Zeit zurückkatapultiert wären. Die Idee mag vereinzelt Zuspruch finden, dürfte aber weit mehr Existenzen gefährden als absichern. Was wir brauchen, ist ein globaler Dialog über eine neue Form des Kapitalismus, oft Postkapitalismus oder postmoderner Kapitalismus genannt. Dazu gehören neue Formen einer Regulierung von internationalen Monopolen, (strafrechtliche) Verfolgung von digitalen Verbrechen, Fake news oder Hatespeech und natürlich eine Bepreisung negativer ökologischer Fußabdrücke.
Ergänzung: Exnovation und echte Weltpolitik
Alle Welt bemängelt immer einen niedrigen Innovationsgrad von Unternehmen oder Volkswirtschaften. Dass eine zentrale Herausforderung der Menschheit genau das Gegenteil verlangt, wird dabei fast immer übersehen. Ich rede von Exnovation (darüber habe ich in meinem Zlog schon mal aufgeklärt). Exnovation heißt, sich von unnötigen Altlasten und vergangenen Innovationen zu verabschieden, wenn diese ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Es ist die bewusste Entfernung schädlicher Lösungen. Dazu gehören einige etablierte, (noch) sehr umsatzstarke Wirtschaftszweige wie die karbonisierte Energie- und Mineralölwirtschaft, die mittelbaren Massenbranchen wie die Automobil- und Luftfahrtindustrie und natürlich althergebrachte Organisationsmodelle, die zu Zeiten der ersten industriellen Revolution entwickelt wurden und vom ungelernten Fließbandarbeiter als Norm ausgingen (auch über New Work habe ich schon mal gezloggt). Die heutige Realität - und ich meine noch nicht einmal das "neue Normal" mit Covid19 - unterscheidet sich fundamental von derjenigen, die diese und weitere Innovationen hervorgebracht hat. Insbesondere "Klimawandelbeschleuniger" und Effizienzbremsen müssen jedoch so schnell wie möglich unter Einhaltung gesellschaftlicher und ökologischer Standards durch neue Lösungen ersetzt werden. Das ist die größte Herausforderung der Menschheit - nicht, wie das neue Geschäftsmodell Deutschlands aussehen soll.
Die neue Realität verlangt globale Lösungen und weniger Denken in Grenzen - sowohl politisch als auch im übertragenen Sinne ökonomisch. Also think outside the box. Alles andere wäre per definitionem Wahnsinn.
Wie?
Mehr Mut zur Veränderung und für neue Organisationsformen bei gleichzeitig verantwortungsbewusstem Umgang mit den Angestellten und der Ökologie. Ist doch ganz einfach.
Ich frage mich immer, warum so wenige Entscheider*innen hierin die win-win-Situation sehen, die so offensichtlich zu sein scheint. Systemgrenzen sind so furchtbar rigide. Die klassische "Taktik des Abwartens" ist jedenfalls eine gefährliche Karte, auf die ich nicht setzen würde.
Es wird Zeit, eine integrative, inklusive und handlungsfähige Weltpolitik und -wirtschaft zum Wohl aller Menschen zu begründen, wenn wir unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten hinterlassen wollen (s. auch Stichwort Tianxia). Was wir dafür brauchen? Das kann kein Mensch genau sagen. Es würde aber helfen, sich einem bewusst zu werden und dieses Bewusstsein ideell und institutionell zu verankern: jeder Mensch ist wichtig und einzigartig, unsere biologischen Grundbedürfnisse jedoch sind überall gleich - die Erfüllung dieser Bedürfnisse überall sicherzustellen, die Millennium Goals weltweit schnellstmöglich zu erreichen und Schicksale nicht in Geld umzurechnen, ist eine wichtige Bedingung, um aus dem "Ende der Globalisierung" kein "Ende der Menschheit" zu machen.
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Interview mit Netzpalaver über New Work und agile Unternehmensführung
Im Juli habe ich mich mit Ralf Ladner, Gründer von Netzpalaver unterhalten, einem der größten Influencer in diversen Tech-Themen. Es ging natürlich nebenbei auch um die Corona-Pandemie und deren Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft. Primär haben wir uns aber über New Work und agile Unternehmensführung unterhalten. Die Kernfrage lautete: Was bleibt von den schlagartigen Management-Entscheidungen infolge der Pandemie, Lockdown und Co.? Ist das Digitalisierung und New Work, wenn konservative unternehmen ihre Mitarbeiter in Heimarbeit schicken? (Spoiler: nein)
Hier geht's zum Interview, das am 21. Juli 2020 über Zoom aufgezeichnet wurde:
https://netzpalaver.de/2020/08/10/interview-mit-zukunftsforscher-kai-gondlach-zu-new-work-und-agiler-unternehmensfuehrung/
Corona (Fehl-)Prognosen und Verantwortung
Zu Beginn der Pandemie wurden allerlei Zukunftsforscher*innen, darunter auch ich, um Einschätzungen zur Zukunft des neuartigen Coronavirus (Covid19) gebeten; wie lange dauert es, bis wir einen Impfstoff gefunden haben? Wie sieht das "neue Normal" aus? Wann wird endlich alles wieder gut? Ein gutes halbes Jahr nach den ersten Anzeichen für eine Pandemie (laut WHO offiziell seit 12. März) ist es Zeit für eine Reflexion.
Es ist nicht meine Art, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Einige "andere" und vor allem deren Aussagen in Massenmedien haben mich nun aber doch dazu bewegt, erneut Stellung zu nehmen. Nach meinem ersten Corona-Artikel am 24. März erhielt ich viele Anfragen von der Presse, unter anderem kam ein Kamerateam von ARD Brisant zu mir nach Hause und löcherte mich mit Fragen. Ich gehöre zu denjenigen, die ihre Annahmen und die Herkunft dieser Einschätzungen gern begründen - und vor allem auch deutlich machen, dass sie auch nicht alles wissen. Schließlich bin ich weder Virologe oder Immunologe noch Pharmakologe oder ein Orakel. Hinzu kommt, dass "die Medien" natürlich reißende Schlagzeilen suchen, weil sie davon ausgehen, dass ihre Leser*innen und Zuschauer*innen nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und keine Zeit oder Lust auf Hintergründe haben. Also ebbten die Anfragen ab.
Natürlich lese ich viele Interviews und Artikel meiner Kolleg*innen. Natürlich muss auch ich mir Gedanken über meine Positionierung und Wirtschaftlichkeit machen. Einige mutmaßliche Zukunftsforscher haben dabei den Bogen normativer Prognosen jedoch deutlich überspannt und bringen damit die junge Disziplin der Zukunftsforschung durch unseriöse, spekulative und unwissenschaftliche Prognosen in Verruf. Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst, die damit einhergeht, als Person des öffentlichen Lebens Aussagen über die Zukunft zu formulieren und teilweise Empfehlungen zum Umgang mit Veränderungs- und Krisensituationen zu geben. In diesem Sinne gehört es für mich zum guten Ton, gewisse Spielregeln einzuhalten, die mitunter weniger populär oder eindeutig einer Politik oder Gesinnung zuordenbar sind. Gut für die Moral, schlecht für die Einschaltquote.
Ich habe auf der Seite Mission & Wissenschaft (+ Unterseiten) beschrieben, worum es der wissenschaftlichen Zukunftsforschung geht. Dazu gehört die Einhaltung der Gütekriterien der Forschung wie Eindeutigkeit, Transparenz, Offenheit und Redlichkeit (s. "Warum Zukunftsforschung?"), welche ich bei erwähnten Covid19-Äußerungen serienweise verletzt sehe. Wir sind hier nicht bei "wünsch dir was"! In diversen Interviews sprachen Trendforscher darüber, dass (Fraktion A) Corona die Gesellschaft erwachen lassen wird, es zu einer lang ersehnten Entschleunigung kommen und das System des "Raubtierkapitalismus" auf den Prüfstand gestellt werden wird. Fraktion B sah den Untergang unserer Gesellschaft und den Tag des Jüngsten Gerichts gekommen. Hauptsache, man schafft es auf die Titelseite mitunter dubioser Medien, um Reichweite zu erlangen. Bezüglich eines Impfstoffs, der Dauer der Pandemie oder spezifischer Auswirkungen wurde dann aber ausweichend geantwortet, nachdem die subjektive Sicht möglichst verklausuliert und rhetorisch astrein dargelegt wurde. Man darf ja um Himmels Willen nicht zugeben, dass es Fragen gibt, deren Antworten wohl niemand kennt. Doch das gehört dazu! Niemand kennt die Zukunft, auch Zukunftsforscher nicht. Paradoxerweise scheint es gerade die Aufgabe der wissenschaftlichen Zukunftsforscher*innen zu sein, genau dies immer wieder zu betonen - darauf achte ich penibel in meinen Keynotes, in Interviews, Podcasts und Blogartikeln. Natürlich wird das nicht immer gedruckt oder gestreamt, es gehört jedoch zu meinem Berufsethos, wenigstens darauf hinzuweisen.
Prognosen zu Corona und "danach"
Wer hat die Corona-Pandemie kommen sehen?
Ich. Natürlich nicht ich alleine, sondern eher eine große Menge Forscher*innen, die sich begründete Gedanken über mögliche und wahrscheinliche Zukünfte machen. Dazu gehört im Übrigen auch das Robert-Koch-Institut, welches im Auftrag des Deutschen Bundestags bereits 2012 über die Risiken einer modifizierten Sars-Variante aufklärte (nachzulesen in der Drucksache 17/12051 vom 03.01.2013). Diesen Einschätzungen habe ich mich angeschlossen und folglich bei passenden Themen auch in Keynotes darauf hingewiesen; letztes Jahr war ich unter anderem im Sommer bei einem großen Pharmaunternehmen für zwei Termine zum Thema "wie leben wir in der Zukunft?" gebucht, in denen ich schwerpunktmäßig die Zukunft des Gesundheitssystems skizzieren sollte. Das habe ich getan und auch auf die Möglichkeit einer zeitnahen Pandemie hingewiesen. Ob es Zufall ist, dass eben dieses Pharmaunternehmen zu den führenden Institutionen für Coronatests und bei der Erforschung eines Impfstoffs gehört?
Wann werden wir einen Impfstoff haben?
Aus aktueller Sicht (Anfang August 2020) ist das laut führenden Virologen immer noch nicht klar. Das Virus stammt schließlich aus der Familie der Coronaviren, die, wie wir wissen, sich gern weiterentwickeln. Die Fortschritte sind global rasend schnell, immerhin ist die Wirtschaft weltweit infolge der Sars-Cov-2-Pandemie deutlich geschrumpft - anders als bei bspw. HIV bröckelt also das Fundament der globalisierten Menschheit. In Russland wird bereits ein Impfstoff getestet, doch selbst wenn es der Menschheit gelingen sollte, so rasant eine wirksame Impfung zu finden, ist immer noch fraglich, wie schnell dieser massenhaft produziert und verteilt werden kann, welche Kosten damit verbunden sind, wer sich gegen die Impfung weigert (Stichwort Impfgegner) und ob damit das Virus tatsächlich verbannt ist.
Wichtiger ist meiner Ansicht nach, dass wir den Umgang mit der Situation meistern und auch die unbequemen Aspekte diskutieren. Ich sehe an dieser Stelle viele Parallelen zur Kommunikation mit Kindern. Es nützt nichts, das Virus zu ignorieren oder zu leugnen; wer sich beim Versteckspiel die Augen zuhält, ist noch lange nicht verschwunden. Ebenso wenig hilft es uns weiter, übertrieben optimistische Prognosen zu verbreiten; auf langen Autofahrten hat es schließlich auch noch nie geholfen, die Frage der Kinder "wann wir endlich da?" mit "wir sind gleich da" zu beantworten, wenn man in Wahrheit gerade aufgrund einer Vollsperrung im Stau steht.
Kurz: Wie lange das "neue Normal" noch andauert, kann niemand mit Gewissheit sagen. Wir können und sollten uns nur bemühen, achtsam miteinander umzugehen und die für Krisen typischen Spannungen menschlich zu meistern.
Wie gehen wir mit der angespannten "Lage der Nation" um?
Wenn die Corona-Ausnahmesituation eins zutage gefördert hat, ist es die unbequeme Wahrheit, dass ein ernstzunehmender Teil der Bevölkerung(en) das Vertrauen in das System verloren hat. Demagogen in politischen Ämtern und zivilgesellschaftliche Influencer gießen zu allem Überfluss noch Öl ins Feuer. Das Virus sei eine Entwicklung des Militärs, Superreiche planen die Übernahme einer Weltregierung, die (Bundes-)Regierung wolle sich mit diktatorischen Methoden die totale Macht sichern - bis hin zu obskuren Thesen, die Machtelite würde mithilfe der UNICEF Kinder entführen und deren Blut trinken. Kaum eine Verschwörungstheorie ist zu bizarr, um viele Anhänger zu finden, die sich dann in einer irrwitzigen Melange von Reichsbürgern, Rechts- und Linksradikalen, Neo-Hippies und besorgten Rentner*innen zu oft grenzwertig legalen Demonstrationen oder Coronaparties treffen. Unglücklicherweise schaffen es weder Politik noch die vernünftige Zivilgesellschaft, diese Sorgenträger*innen ernstzunehmen, sondern kippen ihrerseits eimerweise Wasser auf die Mühlen der "Skeptiker", indem sie die Initiativen kleinreden, sich darüber lustig machen und darüber hinaus politische Agenden der AfD und Co. fehlinterpretieren.
Fakt ist: Die Situation eskaliert. Über die durchaus weitgreifenden Maßnahmen der Regierungen zur Eindämmung der Pandemie kann man streiten, auch über mehr oder weniger demokratische Aspekte der Entscheidungsfindung und Eingriffe in die Autonomie der Bürger*innen. Was bis dato in einer Demonstration mit rund 20.000 bestätigten Teilnehmer*innen am ersten Augustwochenende in Berlin gipfelte, ist im Grunde der Ausdruck von Unzufriedenheit mit unterschiedlichen Aspekten unseres gesellschaftlichen und politischen Systems. Politikverdrossenheit ist keine Neuheit, ontologische Herausforderungen einer repräsentativen Demokratie auch nicht. Dazu dann noch eine Prise Globalisierung und Digitalisierung, sodass die "zur Mündigkeit fähige" Gesellschaft sich in einem fast rechtsfreien Raum (dem Internet) austauschen kann, und wir haben den Salat. Leider tragen die Algorithmen der großen Unternehmen des Social Web (Facebook, Twitter, Snapchat und Co.) nicht gerade zu einer ausgeglichenen Diskurskultur bei; stattdessen bestärken sie sie das Zusammenrotten in inhaltlich eher homogenen Blasen. "Wer meiner Meinung ist, darf mitdiskutieren, wer dagegen ist, gehört der Verschwörung an", lautet die Logik dieser Social Bubbles. Jede Rückfrage, die das Fundament einer "Theorie" infrage stellt, wird als Einschränkung der Meinungsfreiheit deklariert. Pessimisten sehen bereits Anzeichen für den Untergang unserer Spezies herannahen und prophezeien weltweit bewaffnete Ausschreitungen, das Ende der zivilisierten Welt oder Trumps Machtergreifung auch ohne demokratische Grundlage.
Kann der Untergang der Menschheit noch gestoppt werden - und wenn ja, wie?
Einer der wichtigsten psychopathologischen Risikofaktoren für Suizidalität sind fehlende Zukunftsperspektiven (Quelle). Ähnliches beobachte ich seit ein paar Jahren in gesättigten Gesellschaften des Westens; aus diesem Grund ist mein Motto "Zukunft ist eine Frage der Perspektive". Mir war bei der Analyse der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft (Veränderungsangst, Wertevakuum und -konflikte, Anstieg psychischer Krankheiten und Burnout etc.) aufgefallen, dass es vor allem an diversen Perspektiven mangelt. Die Uhr der Globalisierung lässt sich nicht mehr zurückdrehen, wir müssen mit dem Erbe der (historisch betrachtet) schlagartigen Bevölkerungsexplosion (von 1 Mrd. auf 8 Mrd. in knapp 200 Jahren) fertig werden, müssen mit wirtschaftlichen, kulturellen, ethnischen, ethischen und demografischen Unterschieden leben und gleichzeitig die Auswirkungen des Klimawandels (darunter Artensterben, Flächenversiegelung, Anstieg des Meeresspiegels, Verdörrung, Häufung extremer Wetterereignisse etc.) moderieren.
Grundzüge einer Lösung
- Dazu fehlt meiner Ansicht nach erstens eine weltumspannende, inklusive und kooperative Weltpolitik, die diesen Namen auch verdient (Literaturtipp: "Alles unter dem Himmel" von Zhao Tingyang). Ein Teil dieser dringend benötigten obersten Ebene ist es, die Komplexität der Welt anzuerkennen und Abstand zu nehmen von pauschalisierenden Aussagen und politischen Lösungen, die (im Falle von Pandemiemaßnahmen) landesweite Verordnungen mit sich bringen, statt auf Faktoren wie Risikopatienten, soziale Mobilität, demografische Merkmale etc. einzugehen. Auf der anderen Seite gibt es Themen, die nur aus der Vogelperspektive rational beurteilt und behandelt werden können: kaum jemand möchte zum Klimawandel beitragen und doch sind individuelle Zugeständnisse schwer freiwillig zu erreichen, die jede*r einzelne im Alltag eher andere Prioritäten setzt als die unmittelbaren Folgen alltäglicher Handlungen für das Gesamtsystem in Zukunft.
- Ebenso dringend benötigen wir ein neues Verständnis bzw. neue Regeln für den Kapitalismus, der sowohl Wohlstandsunterschiede als auch Umweltfolgen der Produkte und individuellen Handelns einpreist (Literaturtipp: "Postkapitalismus" von Paul Mason). Das Grundprinzip der Marktwirtschaft bringt viele Vorteile mit sich - holistische Verantwortungsübernahme einzelner Akteure gehört nicht dazu. Währungen dienen dazu, Tauschhandel effizienter zu gestalten und Preisstabilität zu gewährleisten; sie greifen aber zu kurz, wenn es um die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Faktoren geht.
- Schließlich mangelt es an neohumanistischen und postmodernen Grundwerten. Allen voran stehen Toleranz und die Einsicht, dass das Primat des Egos durch Belohnungssysteme altruistischer Verhaltensweisen ausgetauscht werden muss. Applaus auf dem Balkon ist zwar nett, zahlt aber nicht die Mieten des Pflege-, Krankenhaus oder Supermarktpersonals. Vor der Moderne waren es in erster Linie die Religionen und deren Priester und Propheten, die allgemeingültige Werte des Zusammenlebens definierten; in der globalisierten, vernetzten und postmodernen Gesellschaft, die ungleich komplexer ist, helfen keine Ansätze mehr, die Ungleichheiten zementieren, Grenzen betonen und Konflikte hinnehmen. Andererseits ist auch die Deutungshoheit der Vereinten Nationen auf "universelle" Menschenrechte aus der Mode gekommen.
Fazit
Wenn es unser Ziel ist, dass unsere und andere Spezies auf diesem Planeten noch viele weitere Generationen in Frieden zusammenzuleben, sollten wir über teils radikale Anpassungen der gesetzlichen und gemeinschaftlichen Grundlagen nachdenken. Und wenn Corona zu einer Sache gut ist, dann vielleicht dazu: die Krise als Chance zu verstehen & das Momentum der Unzufriedenheit auf- und ernstzunehmen und in eine für alle Beteiligten lohnenswerte, lebenswerte Zukunft zu investieren. Wenn wir wollen, können wir die Werkzeuge unserer Zeit nutzen, um einen globalen Dialog anzustoßen und grundlegend neue Modelle zu entwickeln. Wir müssen es nur tun.
Photo by Jude Beck on Unsplash
06/2020: Wie verändert Künstliche Intelligenz unsere Zukunft? (Ferchau)
Am 23. + 30. Juni 2020 war ich bei der virtuellen Roadshow von Ferchau zu Gast. Das Thema lautete: "Wie verändert Künstliche Intelligenz unsere Zukunft?" Die Aufzeichnung haben wir in Stuttgart im Studio von Speakers Excellence gemacht. Hier können Sie sich die Aufzeichnung des ersten Termins anschauen.