Krieg ist dumm

Statement zum Ukraine-Krieg

In den letzten Tagen habe ich auf allen Kanälen sehr viel weniger veröffentlicht als gewohnt. Das ist vermutlich gar nicht groß aufgefallen in einer Zeit, in der die meisten Menschen fassungslos auf den Ukraine-Krieg bzw. die mediale Berichterstattung über die Invasion der Ukraine durch den Irren vom Kreml starren. Doch schon schleicht sich der Allag in vielen Köpfen wieder ein und diesen Moment möchte ich nutzen, um meine Haltung zu dieser Katastrophe zu teilen - nicht, dass es nachher heißt, ich hätte es schweigend ignoriert. Also: Bevor es hier mit dem gewohnten Programm weitergeht, möchte ich kurz Stellung zu dieser historischen Zäsur nehmen. Okay, das "kurz" nehme ich zurück.

Disclaimer - Vorausschau mit Einschränkungen

Ich bin weder Experte für Russland, die Ukraine, Osteuropa im Allgemeinen, noch Militäroperationen. Ich bin Experte für Zukunftsforschung und wie man Vergangenes und Gegenwärtiges in mögliche Zukünfte vorausdenkt, um darin Gestaltungsoptionen zu entdecken. Natürlich spielen Krisen jeder Art grundsätzlich eine Rolle für Projektionen in die Welt von morgen; meist sind dies sogenannte Wildcards, also eher unwahrscheinliche, dafür aber einflussreiche Entwicklungspfade. Diesen Punkt greifen wir gleich noch auf.

Seit Monaten habe ich an manchen Stellen, vor allem im inzwischen eingestellten oder wenigstens pausierten Podcast "Kai for future", über die Entwicklungen an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland berichtet. Auch bei Tiktok und Instagram habe ich auf einige Entwicklungen hingewiesen. Eine Eskalation fürchtete ich schon im Dezember, dann kamen aber Aufstände in Kasachstan und die Olympischen Spiele dazwischen.

Will nur sagen: Der Zukunftsforscher in mir war beim Einmarsch der russischen Truppen nicht überrascht. Der optimistische Mensch in mir ist zutiefst erschüttert.

Krieg im Allgemeinen

Krieg ist dumm.

Persönlich finde ich jede Form von Gewalt dumm, die über Gestik, Mimik und leicht erhöhte Sprechlautstärke hinausgeht. Gewalt hat noch nie zu langfristiger Problemlösung beigetragen, zumindest nicht, wenn man Probleme im Kontext und als holistisches, systemübergreifendes Konzept begriffen hat. Und wer wenigstens kurz die Probleme analysiert, vor denen man steht, wird feststellen, dass es keine monokausalen Probleme gibt. Mit Ausnahme vielleicht tropfender Wasserhähne.

Der Ukraine-Krieg im Speziellen

Die Vorgänge in der Ukraine bzw. die Rechtfertigung Russlands dafür sind geschichtsrevisionistisch, wird oft von Analyst:innen gesagt. Back to the roots, sozusagen. Für mich sind die Vorgänge vor allem der Beweis, dass auch unsere politische Führung über Jahre versagt hat - in größerem Maßstab, als vielen bewusst ist. North Stream 2 ist klar, die Annexion der Krim vor 8 Jahren auch.

Wieso wurden weitere Aggressionen Russlands Führung so lange beschwichtigend hingenommen? Warum wurden Hackerangriffe und die langfristige Unterstützung Rechtsradikaler in Deutschland und die gezielte Verbreitung von Falschinformation nicht früher beim Namen genannt oder gar verhindert? Warum wirkt die politische Elite der Nationen im globalen Norden (vor allem Europa und die USA) so überrascht? Oder ist das nur die Show, die die Gesellschaft davon ablenken soll, dass in den Hinterzimmern doch andere Gespräche geführt werden über die wahren Motive des Angriffskriegs? Wie immer in Zeiten politischer Zäsuren entsteht auch jetzt wieder viel Raum für Verschwörungsmythen.

Es ist zu leicht, den schwarzen Peter ausschließlich bei Putin zu suchen. Klar, der Mann und seine gesamte Elite, die sich bis in den letzten Distrikt des größten Landes der Welt erstreckt, sind krank. In unseren Augen. Wechselt man die Perspektive, ergibt alles einen Sinn - aus unserer Sicht einen äußerst perfiden. Zurück zum Zarenreich, zurück zur Stärke und Größe der Sowjetunion, das hat Putin ja in mehreren Reden deutlich gemacht. Wie wahnsinnig diese Vorstellung ist nach weitgehend friedlichen Jahrzehnten, in denen die einzigen Aufstände ehemaliger Sowjetstaaten sich gegen korruptes oder autokratisches Führungspersonal richteten! Nachdem die Ex-Mitglieder des "Warschauer Pakts" in den 1990er, 2000er und 2010er Jahre freiwillig und demokratisch legitimiert Mitglieder von Europäischer Union und/oder Nato wurden! Vor allem unter Vortäuschung falscher Tatsachen und Umdeutung der eigenen Rolle in einen Friedensbringer, der die Bevölkerung der Ukraine befreit!

Leviathanozän und die Folgen für die Weltgemeinschaft

Wir leben immer noch im Zeitalter des Leviathan. Machthungrige Eliten schaffen sich selbst die Rahmenbedingungen, die ihre Macht stärken und festigen. Ein absolut logischer Schritt ist da die Zementierung Putins Machtapparats durch den jetzigen Angriffskrieg, die völkerrechtswidrigen Attacken gegen die ukrainischen Bevölkerung, die Inhaftierung protestierender Russ:innen, die weitere Einschränkung der Medien- und Pressefreiheit und die Androhung eines Atomkriegs, welcher die logische Konsequenz der militärischen Intervention Nato-Verbündeter wäre. Spätestens an der Stelle hinkt auch der Vergleich mit der Nazi-Diktatur, denn die hatten ja (zum Glück) keine Atombombe - wenn die Beschwichtigungspolitik noch lange genug abwartet, könnten wir herausfinden, welche Folgen deren Einsatz hätte. So viel zum negativen und leider nicht mehr komplett unwahrscheinlichen Szenario.

Und dann das: Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer "Zeitenwende" durch den Ukraine-Krieg. Wenige Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in ukrainisches Territorium wird die 100-Milliarden-Finanzspritze für die Modernisierung und den Ausbau der Bundeswehr beschlossen. Das Aufrüsten Deutschlands und die Solidarisierung mit anderen Nato-Verbündeten kam für meinen Geschmack erstaunlich schnell zustande. Und das getrieben von einer Regierung, von denen zwei Parteien im Gründungsmythos "Pazifismus" stehen haben.

Vieles sortiert sich neu, die geopolitischen Spannungen habe ich hier im Zlog ja auch schon mehrfach angekündigt. Wie die sich im Detail äußern, weiß man vorher oft nie, doch wenn man eins aus der Geschichte gelernt hat, dann dass ein Machtvakuum die Machtexpansion durch Dritte begünstigt, wenn nicht sogar hervorruft.

Lesarten des Verteidigungs-Boosters

Wie immer gibt es verschiedene Perspektiven auf die Realität. Hier eine kleine Auswahl der gängigsten:

  • "Das macht ja auch Sinn, immerhin verstehen Autokraten keine andere Sprache als militärische Abschreckung. Reden scheint nichts zu nützen, da muss man eben wieder Säbel rasseln."
  • "Wie ist es möglich, dass gerade eine Nation, die historisch nicht gerade für den langfristig vernünftigen Umgang mit einem großen Militärapparat bekannt ist, dieser Tage relativ unkritisiert und im Schweinsgalopp eine derartige Summe für Krieg freigibt? Yuval Noah Harari hat uns zwar seinen Segen gegeben, dass international nun niemand denke, die Nazis seien zurück; doch wenn man sich die Skandale der letzten Jahre im Verteidigungsministerium, der Bundeswehr, Sondereinheiten der Polizei und im Verfassungsschutz ansieht, könnte einem auch direkt übel werden angesichts dieses Schnellschusses."
  • "Endlich traut sich mal jemand (Scholz?) und sorgt für eine realpolitische Stärkung der Armee. Die Stunde der Befürworter eines starken Abschreckungsapparats im Verteidigungsministerium und in den Polit-Talkshows hat geschlagen!"

Mich würde übrigens auch Ihre Haltung dazu interessieren. Was denken Sie über den Ukraine-Krieg? Schreiben Sie gern einen Kommentar unten oder eine Mail auf der Kontaktseite.

Ende des Friedenszeitalters durch den Ukraine-Krieg?

Die Jahr(zehnt)e des europäischen Friedens scheinen gezählt, das Ende des Kalten Kriegs habe ich ohnehin nie jemandem abgekauft. Die Blöcke hatten sich zwar wirtschaftlich wieder angenähert, damit haben "wir" aber nun scheinbar der Machtelite in Russland geholfen, die Staatsschulden zu minimieren, eine gigantische Armee aufzubauen, die Atombomben gleichzeitig ordentlich instandzuhalten und genügend Mittel zu haben, um zweckdienliche Posten zu korrumpieren - wir denken nur an Georgien, Aserbaidschan, Tschetschenien, Kasachstan und die Separatistengebiete im Osten der (noch) Ukraine - und auf der anderen Seite einen der effektivsten Geheimdienste der Welt, den FSB, derart zu stärken, um unliebsame Regimekritiker vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu vergiften, dann ins Gulag zu werfen, oder auf deutschem Territorium (und anderswo) kaltblütig zu ermorden. Geschäft schlägt Moral, wenigstens in dem Punkt ist alles beim Alten.

Aber das könnte natürlich auch alles nur Ergebnis der erfolgreichen Propaganda des Westens sein, dass ich so denke, oder!? Nein. Ich selbst bin nicht der Experte für solche Themen, aber dank meines Jobs habe ich Zugang zu einer Reihe internationaler Expert:innen und Veranstaltungen. Natürlich lese ich auch viel von dem, was in den deutschsprachigen Medien landet, darüber hinaus aber auch die internationale Presse und ja, auch mit russischen Expert:innen und Menschen aus der Ukraine und anderen Osteuropastaaten stehe ich in Kontakt. Dazu gehört unter anderem die Resilience League, um nur eine der Quellen zu nennen. Das nur am Rande, bevor der klassische Vorwurf einer einseitigen Berichterstattung erhoben werden kann.

Schließlich erscheint mir der Zeitpunkt der Invasion nicht zufällig gewählt. Dmitri Medwedew, der ehemalige Interims-Präsident Russlands, der einerseits Anfang 2019 noch behauptete, Russland hege keine Kriegsplän, soll andererseits einmal gesagt haben: "Wir sind geduldig". Dass die zeitliche Wahl eines Angriffskriegs nun ausgerechnet kurz nach dem Abschied der Putin-Versteherin, ehemaligen BRD-Bundeskanzlerin und mächtigsten Frau der Welt, Angela Merkel, stattfindet, fällt sicherlich nicht nur mir auf. Welches Motiv dahintersteckt, bleibt ungewiss. Immerhin hat sie sich sehr eindeutig und scharf gegen Putins Krieg positioniert - ganz im Gegensatz zum Altkanzler Gerhard Schröder, der zum Zeitpunkt dieses Beitrags noch immer keine Kritik am Vorgehen Russlands in puncto Ukraine-Krieg verlautbaren lässt.

Alle gegen Putin? Fast alle.

Auf der anderen Seite ist es bewundernswert, wie stark "der Westen" sich in Form von Sanktionen und öffentlichen Verurteilungen mit wenigen Ausnahmen gegen Russland bzw. dessen Diktator wendet. Nun kann man Putin inzwischen endlich auch faktenbasiert und nicht bloß polemisch "Diktator" nennen, wenigstens etwas Gutes hat die Sache. Die einzigen Gegenstimmen im UN-Sicherheitsrat stammen von Belarus, Syrien, Eritrea und Nordkorea - allesamt lupenreine Diktaturen - stimmten gegen die Russlandsanktionen, 141 Staaten dafür, der Rest enthielt sich und verspricht sich im Folgenden Vermittlerboni. Israel wiederum vermittelt inzwischen aktiv. Selbst das globale Hackerkollektiv Anonymous hat sich auf die Seite des Westens geschlagen, was mir persönlich immer wieder eine Gänsehaut beschert. Zuletzt wurden russische TV-Sender und Streaming-Dienste gekapert, um darin über den Krieg zu berichten. Wow.

Chinas Präsident Xi Jinping hat zwar einerseits Anfang Februar noch öffentlichkeitswirksam ein Freundschaftsabkommen mit Putin unterschrieben, weshalb als Schnellschuss die Annahme kursierte, nun eine Einheit ungeahnten Ausmaßes als Kontrahenten zur Nato-Allianz zu haben. Zu kurz gedacht! So eindeutig bekennt sich Xi noch nicht zum kriegerischen Putin; doch die nun überflüssigen Rohstoffe nimmt sein Land der Mitte sicherlich gern. Vielleicht hat Putin sich an einer Stelle zu früh gefreut, denn wirklich unterstützend wirkt China aktuell noch nicht. Und die anderen Sanktionsopponenten dürften kaum politisches Gewicht haben, solange Kim Jong-un nicht auch noch die Atom-Keule auspackt.

Herzerwärmend wiederum ist die Anzahl zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich zusammengeschlossen haben, um einerseits Hilfsgüter in die Ukraine zu schaffen (angefangen bei der Deutschen Bahn und tausenden anderen Konzernen und KMU) über die bekannten Katastrophenhilfeorganisationen bis zum Bündnis Unterkunft Ukraine, das von Elinor und der GLS Bank in atemberaubender Geschwindigkeit ins Leben gerufen wurde: Es vermittelt unbürokratisch Unterkünfte für Flüchtende aus der Ukraine in Deutschland und während ich diesen Text schreibe, sind dort 276931 Betten von 122308 Unterstützer:innen registriert (08.03.2022, 15:50 Uhr). Zwei davon befinden sich in meinem aktuellen Nachbarzimmer.

Was wir tun können im Ukraine-Krieg

Das sind nun ein paar Dinge, die wir tun können:

  • Spenden, Menschen aufnehmen, Initiativen unterstützen. Der Ukraine-Krieg vertreibt Hunderttausende aus ihrer Heimat, viele werden traumatisiert ihr Fluchtziel erreichen. Wer wie ich weder die Möglichkeit noch die Fähigkeit hat, vor Ort zu helfen, aber helfen möchte, kann Geld oder Kleidung, Lebensmittel oder Medikamente spenden. Wie beschrieben, können auch die eigenen Wohnräume für Geflüchtete angeboten werden - auch kurze Zeiträume für die Ankunft helfen.
  • Über die realen Zusammenhänge des Ukraine-Kriegs sprechen und Verschwörungsmythen entlarven. Dabei helfen im Übrigen nach wie vor Factchecks wie Correctiv, Reuters, Mimikama (AT) oder WDR (natürlich gibt es auch hiergegen Verschwörungen des rechtsextremem Spektrums, dass die Anbieter Propaganda verbreiteten).
  • Bessere Vorausschau (Foresight) in Institutionen jeder Art und Redaktionen implementieren. Ich mag Überraschungen - aber keine existenziell bedrohlichen wie den Ukraine-Krieg! Präagieren statt reagieren heißt die Devise. Ich erzähle in den letzten Jahren so viel über Resilienz und dass dafür bessere Beschäftigung mit Zukünften nötig ist; immer mehr Unternehmen haben das verinnerlicht und auch öffentliche Einrichtungen wagen erste Gehversuche. Doch gelegentliches Berichtswesen über mögliche Herausforderungen oder Katastrophen reichen nicht aus: Das Systemdesign einer Organisation muss vom Grunde her neu gedacht werden.

Und: Bitte nicht die russischstämmige Bevölkerung für Putins Verbrechen verantwortlich machen. Die wird in den Standardszenarien der nächsten Jahre und Jahrzehnte am schlimmsten unter den Kriegsfolgen leiden. Das ist es, was mich neben dem unsagbaren Leid der ukrainischen Bevölkerung vergleichbar tief erschüttert: Das knallharte Kalkül, mit dem Putin sein Volk langfristig für den eigenen Machtzuwachs opfert, um ein Denkmal von sich selbst in Kiew aufstellen zu können. Toxische Männlichkeit im Quadrat.

Keine Spekulationen, aber ...

Über folgendes möchte ich an dieser Stelle nicht spekulieren, es jedoch wenigstens genannt haben:

  • Mögliche Szenarien für die russische Bevölkerung: Da sehe ich dunkel, ich kenne nur die genaue Schattierung noch nicht. Revolten wären möglich, aber nicht besonders wahrscheinlich, solange der Lebensstandard noch einigermaßen stabil ist. Ein Großteil der Bevölkerung hat ohnehin weder Zugang zu Informationen noch wirtschaftliche Mittel, um tagelang die Arbeit niederzulegen; andererseits gab es nun über 100 Jahre keine mehr und zumindest im Sinne der 1905er Revolution hätte es jetzt vergleichbaren Zündstoff. Vielleicht nicht mehr 2022, vielleicht aber nächstes oder übernächstes Jahr.
  • Der Verlauf des Ukraine-Kriegs: Bleibt's bei den beiden "unabhängigen" Regionen im Osten als Landbürcke zur Krim, ggf. der Absetzung der Selenskyj-Regierung oder wird das ganze Land geschluckt? Macht die russische Armee an den Grenzen der Ukraine wirklich Halt oder provoziert Putin den Bündnisfall der Nato, um eine Rechtfertigung für noch Schlimmeres hat? Müssen wir wirklich Angst vor einem dritten Weltkrieg haben bzw. ist der längst existent?
  • Die wahren Ziele Putins: Ist es wirklich nur toxische Männlichkeit und der Wunsch einer Statue in Kiew? Das wäre wohl zu einfach gedacht, auch wenn einige Russlandexpert:innen ihm eine lupenreine Paranoia und pathologische Hybris attestieren (angeblich merkt das nun auch sein innerster Zirkel, der von "Totalversagen" spricht). Aus der klassischen Spieltheorie wissen wir, dass das Verhandlungsergebnis immer in der Mitte zwischen zwei Angeboten liegen wird; verschiebt Putin durch die "Militäroperation" die Grenzen der Ukraine nun bis direkt an die EU / Nato, dürfte ihm im Ergebnis maximal das halbe Land bleiben. Putin ist nicht unintelligent, also ...
  • Die versteckte Agenda westlicher Regierungen: Diesen Punkt darf man nie vergessen, es ist naturgemäß kein schwarz gegen weiß. Die USA dürften von der ganzen Krise langfristig profitieren, sämtliche Alternativen zu russischen Exporten besonders im Energiesektor, Produktionsstätten wichtiger Industrierohstoffe wie Aluminium und Titan und vieles mehr. Welche mittel- und langfristigen Auswirkungen sich ergeben, hat der sehr geschätzte Zukunftsforscher Victor V. Motti kürzlich in einem Futures Wheel zum Ukraine-Krieg antizipiert.
  • Merkwürdige Widersprüche in der Förderpolitik der BRD: 100 Milliarden für Panzer und Raketen, aber nicht mal eine Milliarde als Bonus für Pflegekräfte, geschweige denn Modernisierung von Bildungseinrichtungen? Das wird extrem schwer vermittelbar für eine tendenziell linke Regierung.
  • Zukünftige Energie- und Rohstoffpreise: Benzin und Diesel wären auch ohne Krieg und Abwendung von Nord Stream 2 teurer geworden ... Jetzt entstehen zwei neue Hubs in Norddeutschland, um schnell unabhängig zu werden von russischem Gas und Benzin, der Ausbau erneuerbarer Energien wird boomen. Letzteres spielt in die Karten der Ampel-Regierung.
  • Folgen für den Fachkräftemangel: Vielleicht bringt der Ukraine-Krieg sogar einen positiven Effekt mit sich, immerhin wandern mit Geflüchteten aus der Ukraine Hunderttausende nach Deutschland. Für den Fall, dass in ihrem Heimatland ein zweites Belarus entsteht, was nicht ganz unwahrscheinlich ist, könnte ich mir gut vorstellen, dass sie gern hier blieben.
  • Herausforderungen für die Gesellschaft: Wem tönt nicht das 2015er Merkel-Mantra "wir schaffen das!" durch den Hinterkopf? Integration war noch nie unsere größte Stärke, nicht einmal mit der eigenen Brudernation, der ehemaligen DDR. Ersthilfe klappt in der Regel ganz gut, aber was ist mit Visa, Asyl und Arbeitserlaubnis - unbürokratisch? Viele Ukrainer:innen haben zwar deutsche Wurzeln oder sogar heute noch Verwandtschaft, doch wie bekommen wir Sprachkurse, (Aus-)Bildungsprogramme und kulturelle Verständigung zwischen allen Menschen in Deutschland hin?
  • Das internationale Wissenschaftssystem hat sehr von der zunehmenden Öffnung der russischen Wissenschaft profitiert; das könnte nun vorbei sein. 7000 Wissenschaftler:innen aus Russland haben sich gegen den Krieg ausgesprochen, was wahnsinnig mutig ist. Doch wenn infolgedessen die Finanzierung für ihre Institutionen wackelt und es ans Eingemachte geht, steht Russland entweder ein massiver Braindrain bevor oder die Wissenschaft in Russland ist tot, zumindest für den Rest der Menschheit. Der weltweit größte Wissenschaftsverlag Springer hat sich bereits deutlich positioniert. Ob die ISS und folglich die international fast romantisch anmutende Kooperation im "New Space Race" das überlebt, steht in den Sternen.
  • Der internationale Sport wird etwas Doping-ärmer. Ich denke, das ist zu verkraften, aber ja, das ist ein blödes Klischee und ich habe ohnehin überhaupt keine Ahnung von Sport. Aber bis hierhin lesen ohnehin die wenigsten - Glückwunsch!

Schluss: Ukraine-Krieg macht ohnmächtig

Es sind traurige Zeiten und mehr denn je spüre ich Ohnmacht. Doch wie immer versuche ich, den Blick auch auf Chancen zu richten. Dazu dann später mehr.

Ende des Statements. Weiter geht's hier mit den üblichen Veröffentlichungen.

Photo by Max Kukurudziak on Unsplash


Rück- und Ausblick 2021-2022 - von Corona bis Bitcoin Im Hier und Morgen #IHUM

Das Jahr 2021 ist (endlich!) zuende - und hier kommt mein persönlicher Rück- und Ausblick! Privater denn je, doch keine Angst, natürlich gibt es auch einen umfangreichen Ausblick auf die wichtigsten Themen in 2022. Dabei geht's unter anderem um Resilienz, Wahnsinn und Weltmachtpolitik; außerdem die Ampel-Koalition, Privatisierung des Weltalls und Klimakrise. Und noch vieles mehr.

Guten Rutsch (nachträglich)!

Neujahrsempfang 3. Januar 2022 (Wirtschaftsdienst Niedersachsen): https://www.wirtschaftsdienst-exklusiv.de/2022/01/03/wirtschaftsdienst-neujahrsempfang/
Der Band "Arbeitswelt und KI 2030" bei Springer: https://link.springer.com/book/9783658357788
Der Band bei Amazon: https://amzn.to/3BzhvNi
Der Band bei Buch7 (sozialer Buchhandel): https://www.buch7.de/produkt/arbeitswelt-und-ki-2030-inka-knappertsbusch/1042544070?ean=9783658357788&partner=kai-gondlach

Der Themenüberblick:

00:00:00 Intro: (persönlicher) Rückblick und Ausblick auf 2022
00:00:49 Persönlicher Rückblick
00:07:39 Schweigeminute
00:08:44 Rückblick 2021: Spaltung, aber auch Corona in einem positiven Licht
00:13:22 Lichtblicke: Neue Initiativen, Startups und tolle Menschen
00:19:55 Neuer Schwestern-Podcast: Kai for Future seit Juni on air & DANKE
00:21:02 Ausblick: von Resilienz, Wahnsinn und Weltmachtpolitik
00:24:29 Ampel-Koalition als Lichtblick? Und doch wieder Machtpolitik. Und irre Despoten. Und Polexit. Und Brexit. Und mehr.
00:28:01 Weltall: Privatisierung, Starlink, Uckermark, James Webb, All-Fabriken, Marswasser, Asteroiden-Mining
00:30:22 Klimawandel: Flutkatastrophe, langsame Behörden und mehr Klimaschutz und dessen Folgen
00:32:40 Künstliche Intelligenz und die Arbeitswelt: Massensterben der Unternehmen
00:33:56 Corona 2022
00:36:06 Technologie im Schnelldurchlauf: Bitcoin, Krypto, NFTs, Web 3.0, Metaversum, dezentrales Internet
00:37:17 Turbulenzen - doch die Chancen im Fokus
00:39:06 Abschluss, Reflexion und Dankbarkeit

Teaser

Auszug aus der letzten Podcast-Episode des Jahres über Resilienz und warum die gängige Definition uns in den Wahnsinn führt.

Abspann

Wie gefällt Ihnen diese Podcast-Folge? Nutzen Sie für das Feedback gern mein Kontaktformular oder meine Profile auf Linkedin, Twitter, Facebook oder Instagram.

Diese Episode wird bei Spotify und Co. erstveröffentlicht am 30.12.2021. Hier im Zlog schon seit dem 29.12. um 09:38 Uhr.


World Economic Forum at en.wikipedia, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Weltwirtschaftsforum WEF Davos 2021: Xi & Merkel und die Tianxia

Diese Woche findet / fand das Weltwirtschaftsforum von Davos (World Economic Forum, WEF) statt - natürlich digital. Ich habe mir die wichtigsten Botschaften angeschaut.

Wer es nicht kennt: beim Weltwirtschaftsforum treffen sich seit 1971 Staats- und Regierungschefs, Unternehmensvorstände und führende zivilgesellschaftliche Akteure. Der Gründer, Prof. Dr. Klaus Schwab, hatte es ursprünglich als Europäisches Management Forum ins Leben gerufen und seit 1987 - zufälligerweise mein Geburtsjahr - auf die globale Bühne gebracht. Ich möchte allen die hervorragenden Studien des Weltwirtschaftsforums ans Herz legen, beispielsweise zu den Themen "Future of Jobs" oder "Global Risks". Aber nun erstmal zur aktuellen Lage.

Xi Jinping trump(f)t beim Weltwirtschaftsforum mit großen Worten

Der chinesische Staatschef Xi Jinping hat es sichtlich genossen, nach der vierjährigen Isolation der Weltmacht USA mit großen Worten und Versprechen sein Land zu positionieren. Was steckt dahinter?

Führende politische und ökonomische Analyst*innen weltweit rechnen fest damit, dass China schon sehr bald die USA als Hegemonialmacht ablösen wird. Die Frage, die uns in Europa umtreibt, ist nicht, ob dieser bevorstehende Machtwechsel eintreten wird, sondern wie er aussehen wird. Und Xis Rede beim wichtigsten geopolitischen Format lässt hoffen - stimmt aber auch skeptisch.

China hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine atemberaubende Wende vom Entwicklungsland zum Global Player vollzogen. Die strikte Führung der Kommunistischen Partei hat mit ambitionierten Fünfjahresplänen immer wieder Wachstumsrekorde aufgestellt, geht dabei auch im wahrsten Sinne über Leichen. Die kürzlichen Eingriffe in einige der größten Unternehmen des Landes (und der Welt) wie Alibaba, dessen Gründer Jack Ma zeitweise unerklärlich von der Bildfläche verschwand, sind da nur die Spitze des Eisbergs - oder wenigstens eine maximal konsequente Kartellpolitik mit fragwürdigen Mitteln. Die Diskriminierung und Verfolgung einiger Volksgruppen wie der Uiguren passt weder zum "westlichen" Humanismus noch zu der Rhetorik in öffentlichen Auftritten des Staatspräsidenten.

Haben Xis Redenschreiber von Obama abgeschrieben?

Die Rede von Xi könnte mit einigen Ausnahmen auch von einer europäischen oder der neuen US-amerikanischen Regierung stammen. Weniger pathetisch vorgetragen, da wird nichts dem Zufall überlassen. Er spricht darin natürlich über die Corona-Pandemie und den "Global Reset". Vor allem mahnt er die Staatengemeinschaft zu Frieden, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit. Er prangert exklusive Politik an und wirkt erleichtert über den US-Regierungswechsel, um vor allem ökonomische Lieferketten wiederherzustellen.

Tatsächlich erwähnt Xi indirekt die Tianxia, über die ich einen kurzen Beitrag verfasst habe. Das, was in den Politikwissenschaften und auch der Zukunftsforschung "Global Governance" genannt wird, benennt Xi unmissverständlich als globale, multilaterale Kooperation - basierend auf unseren geteilten Werten und international verbindlichen Regeln, anstatt auf Machtstrukturen, die von einem oder wenigen Akteuren ausgenutzt werden, um singuläre Interessen durchzusetzen. Welche geteilten Werte das abgesehen von Floskeln sind, bleibt vage.

Internationale Gemeinschaften wie die Vereinten Nationen und sogar der Internationale Gerichtshof lobt der chinesische Staatschef ausdrücklich. Allerdings fordert er von anderen Staaten, Unterschiede zu respektieren und staat Wirtschaftskriegen den Dialog bei Meinungsverschiedenheiten zu suchen. Einen neuen Kalten Krieg gilt es ebenso wie die gängige Nullsummen-Mentalität zu verhindern. Besonders gefällt mir als Zukunftsforscher natürlich die Phrase "take on new perspectives and look to the future".

Da Xi direkt die WHO oder WTO adressiert und eine Stärkung dieser globalen Institutionen fordert, klingen seine Worte tatsächlich global kompatibel, zumal er explizit die Unterstützung von Entwicklungsländern, globale digitale Governance und grünen Fortschritt als Leitlinien der Politik fordert. China will seinen CO2-Peak noch vor 2030 erreichen, CO2-Neutralität vor 2060 - und das bei einer weiterhin wachsenden Volkswirtschaft. Wir dürfen gespannt sein.

"Nullsummenspiel oder winner-takes-all ist nicht die Leitphilosophie des chinesischen Volkes."*
Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum 2021

Klar, ein bisschen Eigenlob muss auch sein. Die moderne sozialistische chinesische Gesellschaft hat als erster Staat der Welt das Covid19-Virus eingedämmt und bietet großzügig seine Kooperation in der Pandemie an. Denn: die Leben der Menschen sind das wichtigste Gut. Wow.

Mein Fazit zu Xi Jinpings Rede

Diese Ansagen stehen zum Teil im derben Kontrast zu den faktischen Entscheidungen und Handlungen des Landes. Die Welt schaut gebannt nach China - wird der neue Fünfjahresplan, vergleichbar mit dem Marshall-Plan der Nachkriegszeit, als Xi-Plan in die Geschichtsbücher eingehen? Das hängt vielleicht auch ein bisschen davon ab, wer diese verfassen wird.

"Ladies and gentlemen, friends. There is only one earth and one shared future for humanity. ... We need to stand united and work together. ... Let us all join our hands and let multilateralism light our way toward a community with a shared future for mankind."
Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum 2021

Merkel stellt beim Weltwirtschaftsforum 2021 "Great Reset" infrage

Exakt ein Jahr nach der ersten Covid19-Infektion in Deutschland war am 26.01.2021 dann Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel dran. Zu Beginn ihrer Rede stellt sie zunächst den Begriff des "Global Reset" infrage, befasst aber sich lieber mit drei Fragen:

1. Konnte sich die globale Kooperation beweisen?

Das Virus habe uns nun endlich Globalisierung erklärt - Abschottung klappt nicht, wir brauchen mehr Zusammenarbeit. Die Pandemie hat indes die Souveränität einiger Länder infrage gestellt, die von globalen Lieferketten abhängig sind. Also fast alle. Dabei spricht sich Frau Merkel aber klar gegen Protektionismus aus. Auch sie betont immer wieder, wie entscheidend heutzutage ein multilateraler Ansatz ist - z.B. bei Impfungen (Covax als solidarisches Prinzip). Diese gegenseitige Unterstützung innerhalb der Staatengemeinschaft darf aber nicht im Nachhinein ausgenutzt werden für machtpolitische Spielchen, denn:

"Es ist die Stunde des Multilateralismus ... nicht nur irgendwie zusammenarbeiten, sondern auch transparent zusammenarbeiten."
Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum 2021

Immerhin sei Entwicklungshilfe auch im nationalen Interesse und dazu gehört auch, die Verbindungen nach Afrika weiter zu stärken. Mehr fairer, weltweiter Handel, stärkere WTO-Strukturen und den asiatischen Aufschwung mitbegleiten. Andererseits müssen Subventionen und Investitionen immer beiden Seiten dienen und transparent sein, damit alle Menschen von Hightech-Kooperationen und Arbeitsnormen (ILO) gleichermaßen profitieren können.

Ganz kurz fällt auch die Forderung nach einer Mindestbesteuerung digitaler Unternehmen und Wettbewerbsrecht vs. Monopole - da hat sie in Xi Jinping sicher einen guten Fürsprecher. Wir wissen alle, dass diese Lippenbekenntnisse unverbindlich sind. Schließlich sieht Merkel verhaltene Wachstumsaussichten in Europa und anderen Teilen der Welt, weshalb sie in Summe zuversichtlich, wenn auch sichtlich gestresst ist.

Kurz: Tianxia.

2. Sind unsere Gesellschaften verwundbar?

Unsere Abhängigkeit von der Natur und globalen Lieferketten wurde uns ziemlich rabiat durch ein winzig kleines Virus vorgeführt. Versäumnisse in der Nachhaltigkeit, dem Schutz der Biodiversität und dem Abwenden des Klimawandels - kurz, die Inhalte des Pariser Abkommens - haben die Entstehung und Entwicklung der Pandemie begünstigt. Der EU-Green Deal muss entsprechend konsequenter und ambitionierter umgesetzt werden. Und schneller. Dabei werden teilweise auch unliebsame Entscheidungen durchgesetzt werden müssen, aber es müssen alle Menschen mitgenommen werden. Da ist sie wieder, die "Alternativlosigkeit".

Das Konjunkturpaket des Bundes wiederum sei konsequent an "Zukunfsinvestitionen" gekoppelt: 20% müssen für Digitalisierung aufgewendet werden, 50% für Nachhaltigkeit. Doch bei allen Anstrengungen, die Pandemie zu überstehen, dürfen die Industrieländer sich nicht zu sehr auf sich selbst konzentrieren, sondern die Entwicklungszusammenarbeit eher noch verstärken. Denn wie immer trifft es die Ärmsten am härtesten.

Kurz: Wir sitzen alle im selben Schlauchboot auf einem rauen Ozearn. Wir müssen zwar den aktuellen Sturm überleben, dabei aber auch darauf achten, beim aktuellen Manöver kein Loch in die Rückseite des Boots zu reißen.

3. Sind wir widerstandsfähig genug?

Die "Jahrhundertkatastrophe" hat Schwachstellen in unseren Gesellschaften offengelegt. Der grundlegende Zusammenhalt der Bürger*innen hat dennoch - trotz der föderalen Strukturen - in Summe funktioniert. Sie gesteht Fehler ein, die oft auch infolge der langwierigen bürokratischen Prozesse entstehen. Dennoch hat die Entschlossenheit und ein vergleichsweise gut aufgestellter Fiskus dazu beigetragen, die Konjunktur zu stützen.

Der "Mangel an Digitalisierung" wurde ebenso offenkundig und bremst uns aus - Merkel mahnt sehr klar die Missstände im Gesundheits- und Bildungssystem an. Die Selbstkritik ist zwar nett gemeint, aber kommt dann doch etwas zu kurz. Andere Analysten sehen die Gesellschaft gespalten - dazu kein Wort.

Kurz: Wir müssen resilienter werden!

4. Eigenlob

Eigenlob widerstrebt der herkömmlichen deuschen Seele, daher gleitet Merkel erwartungsgemäß schnell ab. Die Forschung sei zwar in ihrer Amtszeit deutlich vorangegangen, auch protenzual am BIP, und das hat uns auch in dieser Krise geholfen. Dieser Punkt bringt sie gedanklich direkt zur kritischen Fragestellung hinaus in die Welt, wie das Verhältnis von Worten und Taten ist. Damit verbindet sie die klare Kritik an Chinas Kommunikation zu Beginn der Pandemie; will jedoch nicht nur schimpfen, sondern vor allem daraus lernen.

Einen kleinen Sidekick über den großen Teich kann sie sich nicht verkneifen und lobt den Wiedereintritt der USA in die WHO, nachdem Bidens Vorgänger vier Jahre lang einen Stillstand der gedeihlichen globalen Zusammenarbeit provozierte.

Merkels Fazit

"Pandemie kann als Bestätigung all dessen gelten, was in den letzten Jahren den Geist von Davos ausgemacht hat. Die Fragen, die diskutiert wurden, waren richtig, aber entsprechend dem deutschen Schriftsteller Erich Kästner haben wir ein Sprichwort: 'Es gibt nichts Gutes, außer man tut es'"
Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum 2021

Nach Frau Merkel ist das Reden und Diskutieren natürlich wichtig, aber jetzt kommt ein "Zeitraum des Handelns" möglichst nach gemeinsamen Prinzipien. Nehmen wir sie beim Wort!

Mein Fazit zu Dr. Angela Merkels Rede

Frau Merkel stellt den "Great Reset" infrage, begründet aber nicht genau, was sie meint. Was sie meiner Meinung nach sagen möchte, ist: es wird kein Zurück zum alten Normal geben. Doch bleibt sie uns - wie immer - eine Vision schuldig. Oder ist das in didaktisch kluger Schachzug, um die Zivilgesellschaft zum Erarbeiten einer Vision aufzurufen?

Ihre drei Kernthemen sprechen zwar wichtige Herausforderungen an, doch Merkel wirkt wenig souverän bei der Ausführung; sie stockt öfter als üblich, wirkt überarbeitet, räuspert sich oft und "ähmt" oft. So richtig will mich die Rede einfach nicht inspirieren. Wir wissen alle, dass es gewisse Pfadabhängigkeiten gibt. Diese dürften auch dazu führen, dass große Unternehmen schneller gerettet werden als Branchenzweige im Mittelstand - ein großer Fehler. Auch die bestehenden Subventionen bspw. für konventionelle Landwirtschaft, Importe nicht nachhaltiger Waren oder Rüstungsexporte in Kriegsgebiete unterliegen diesen Abhängigkeiten.

Auf der anderen Seite verdienen Beschäftigte in den Epizentren der Pandemie heute nicht mehr als zu Beginn der Pandemie, also primär in Kliniken, Heimen und dem Rest des Gesundheitssektor - trotz Doppelbelastung, leeren Versprechungen und der oft als höhnisch wahrgenommenen Geste applaudierender Mitbürger*innen. Es ist ein Wunder, dass das System noch nicht kollabiert ist und ist wohl der intrinsischen Motivation der Health Worker zuzuschreiben.

Gesamtfazit zum Weltwirtschaftsforum 2021

Hätte Joe Biden einen Beitrag geleistet, hätte ich auch diesen kommentiert. So taucht der neue US-Präsident nur passiv auf, aber wie in meiner Szenarioanalyse zur US-Präsidentschaftswahl beschrieben, wird er sich wohl beim "echten" Weltwirtschaftsforum in Singapur im Mai äußern. So bekommt er lediglich sein Fett weg, da die neue Administration weiterhin an der Politik des "buy at home", also "America first light" festhält. Abgesehen von vielen wichtigen Kehrwenden zum Trump-Trauma ereilt Biden und seine Gefolgschaft das Los der Abwesenden.

Xi Jinping und Angela Merkel füllen entsprechend das fortdauernde geopolitische Machtvakuum liebend gern aus. Sie trumpfen mit großen Ansagen für globale Kooperation, freien Handel, Menschenrechte und, das werden beide nicht müde zu betonen, den ambitionierten Kampf gegen den Klimawandel noch entschiedener zu führen.

  • Xi verspricht viel, konnte in seiner aktuell knapp achtjährigen Amtszeit auch vieles halten - ist aber natürlich nicht der Heilige, als der er sich inszeniert. Staatliche und kollektive Ziele stehen in China traditionell über der Würde des Menschen und es bleibt abzuwarten, ob die Ambitionen des Reichs der Mitte an der Spitze der geopolitischen Nahrungskette den Versprechen der Führung gerecht werden können. Walk the walk!
  • Merkel hatte nun 16 Jahre, um wirksame, ökologisch nachhaltige Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Sie und ihre wechselnden Kabinettsmitglieder konnten vielleicht Schlimmeres verhindern - doch wie so vieles aus ihrer Legislatur, bleiben die Fortschritte infolge des moderaten Mittelweges und dem "Primat der Raute" leider genau das: mittelmäßig.
  • Wladimir Putin sprach übrigens auch: Viele Worte, wenige Inhalte. Er liefert exakt das, was zu erwarten war: Weltfremdes Eigenlob ohne ein Wort zu den eigenen Völkerrechtsverletzungen (Georgien, Ukraine, Bergkarabach). Es lässt sich kaum ein Unterschied zu einer Stalin-Rede finden und genau das könnte es sein, was der Kreml damit bezwecken will. Das einzige Machtinstrument Russlands bleibt nach dem Abschied von der geopolitischen Realität das Atomwaffen-Arsenal - immerhin das ist durch den New START Vertrag begrenzt. Putins Freiheitsbegriff war nie weiter entfernt vom globalen Konsens - das könnte noch knallen. Hoffen wir das Beste.

Das verbale Anmahnen von "Taten statt Worten" könnte genau das bleiben, was es ist: leere Worte. Es müssen stattdessen klare und unbequeme Einschnitte verabschiedet werden, um die skizzierten Ziele ernsthaft anzugehen. Gemäß der klassischen Verhandlungstheorie sollten dies klar formulierte Forderungen gegenüber WHO, WTO und UN sein, inklusive Nachkommastelle.

* im Original: "Zero-sum-game or winner-takes-all is not the guiding philosophy of the Chinese People", Xi Jinping, 25. Januar 2021 beim Weltwirtschaftsforum Davos, "Full Video: Xi Jinping delivers speech at WEF Davos Agenda 2021 via video link", at 22:10. Online.

Fun Fact: Indiens Premierminister Narendra Modi, dessen Land immerhin 18% der Weltbevölkerung beheimatet, war der einzige, der ohne Skript sprach. Und der darauf hinwies, dass man vielleicht den generellen Gesundheitszustand der Menschen infragestellen muss. Ansonsten eher ein Werbeclip für Investoren.