Wie wird der Corona-Sommer 2021?

Ausnahmezustand seit einem Jahr. Alle Welt hofft auf Lockerungen, Aufatmen, Impfungen, zurück zu Normal. Das System steht auf dem Prüfstand - wie geht es weiter?

Nach dem Corona-Winter ist vor dem Corona-Winter

Während ich diese Zeilen schreibe, ist noch Winter - Ende Februar 2021. Falls Sie das hier deutlich später lesen, zur Erinnerung: Klimawandel sei Dank hatten wir im Februar europaweit eine heftige Kältewelle, ausgelöst durch verirrte Polarwirbel - gefolgt von den wärmsten Februartagen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen (dazu habe ich eine Podcast-Episode aufgenommen).

Nun, da der Frühling den Fuß in der Tür hat, hoffen viele auf Lockerungen der Pandemieauflagen. Doch sie werden leider weitere Enttäuschungen hinnehmen müssen; Virologen sind sich einig, dass insbesondere die neuen, mutierten Varianten des Sars-Cov-2-Virus (vor allem B.1.1.7 und B.1.351) noch ansteckender sind als die ursprüngliche Virusform. Da wir alle im letzten Jahr viel über exponentielle Entwicklungen gelernt haben, können wir uns mit einfachen Mitteln selbst ausrechnen, was das für die Verbreitung und Ansteckungsgefahr bedeutet: Die Infektionszahlen (und damit auch die Inzidenzwerte, also Infektionen pro 100.000 Einwohner:innen) steigen noch schneller, wodurch kritische Werte überschritten werden und Einschränkungen des öffentlichen Lebens bestehen bleiben oder sogar verschärft werden. Ob dadurch auch die Sterberate steigt oder sich das Virus abschwächt, wird derzeit diskutiert. Dennoch: wir müssen aktuell davon ausgehen, dass Corona uns noch eine Weile begleiten wird.

Nun stehen wir wieder mitten in der Zwickmühle. Außer Stillstand scheint es keine Option zu geben - und das ist auch der Punkt, an dem staatliche Maßnahmen zu Recht kritisiert werden. Inzwischen liegen jedoch auch ausreichend Erkenntnisse über verschiedene nationale Strategien vor; der "schwedische Weg" ist gescheitert, komplette Verleugnung (der weißrussische oder tansanische Weg) ebenso. Dann wäre da noch die Wahlkampfvariante aus den USA, wo bislang am meisten Menschen an den Folgen der Covid-19-Erkrankung gestorben sind - ein tragisches Armutszeugnis für die mächtigste Nation der Welt. Dann wäre schließlich ein letzter Hardliner-Weg zu erwähnen, dem viele nicht so Recht trauen: China hat mit der bekannten diktatorischen Härte und harten Quarantäne-Auflagen für sämtliche Einreisende angeblich das Virus ausgerottet. Aus irgendwelchen Gründen glauben wir diesen Meldungen weniger als denen aus Ozeanien, denn auch in Neuseeland und Australien (zusammen ca. 12 Millionen Einwohner) gibt es nahezu keine Fälle mehr.

Deutschland hat sich für eine der sozialsten und gleichzeitig teuersten Varianten entschieden. Und warum? Weil wir können. Und weil die Bundestagswahlen in diesem Jahr anstehen.

Corona und Bundestagswahlen

Was haben nun die Wahlen mit der deutschen Corona-Strategie zu tun? Das ist eigentlich ganz einfach.

Welche Menschen sind durch Corona am stärksten gefährdet? Faustregel: Je älter, desto schlimmer. Genauer gibt es einen signifikanten Anstieg der schweren Krankheitsverläufe ab einem Alter von 50 Jahren. Ein Blick auf die Bevölkerungspyramide verrät, warum diese Menschen nun besonders geschützt werden: Weil sie in der Überzahl sind. 45% der Bevölkerung in Deutschland sind 50+ Jahre alt, 16% unter 18 Jahren, bleiben noch 39% für die 18- bis 49-Jährigen. Und wer wählt wie? Laut Bundeswahlleiter bewahrheitet sich auch hier eine einfache Faustregel: Je älter, desto konservativer.* So ist es die offensichtlich alternativlose Option, insbesondere die ältere Bevölkerung zu schützen.

Verstehen Sie mich nicht falsch, aus (neo-)humanistischer Perspektive finde ich es richtig, Menschenleben zu schützen - unabhängig vom Alter, Herkunft, sexueller oder kultureller Identität etc. Die Wahl der Corona-Strategie in Deutschland folgt aber leider nur bedingt humanistischen Idealen, sondern einem klaren machtpolitischen Kalkül. Politikberatungen werden im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl im September sehr genau darauf geachtet haben, welche soziodemografischen Schnitte sich mit und ohne Corona ergeben. Das Alter (und damit das statistische Risiko einer schweren Erkrankung) ist nach wie vor eine sehr einfache Linie für den Wahlkampf.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir letzten Frühling einen harten Lockdown für vier Wochen durchgeführt. Doch das war natürlich nicht vermittelbar, da die Menschen mehr Angst vor einer Diktatur haben als dem Virus. Und damit sind wir beim nächsten Abschnitt.

Querdenker töten

Das Wortspiel habe ich von Die PARTEI kopiert. Natürlich soll die Überschrift keine Handlungsempfehlung sein, ich hoffe, Sie ergänzen sie im Kopf mit dem Akkusativobjekt: "Menschen". Warum, löse ich im letzten Absatz dieses Abschnitts auf.

Verschwörungsmythen gehören zu den Menschen wie die Gute-Nacht-Geschichte. Letztere hat einen pädagogischen Zweck und wird in fast allen Kulturen praktiziert. Erstere kann unterhaltsam sein, solange sie klar als Fiktion gilt oder tatsächliche Zusammenhänge aufdeckt - wenn nicht, ist sie mitunter gefährlich. Offensichtlich hat eine ganze Generation zu viel Akte X geschaut, während sie den Geschichtsunterricht geschwänzt hat. Über Jana aus Kassel wurde schon viel gesagt und geschrieben. Kurz: Sie ist als denkwürdiges Beispiel in die Mediengeschichte eingegangen, was alles falsch laufen kann und warum wir immer noch nicht genug für die Aufarbeitung unserer Geschichte tun (falls Sie das verpasst haben).

Ich habe mir viel Mühe gegeben, die "Querdenken-Bewegung" zu verstehen, deren Ängste und persönlichen Motive. Ich habe mich in Social Media auf lange Diskussionen eingelassen, viel Zeit und noch mehr Nerven investiert. Dabei habe ich immer wieder gefragt, woher die Rage kommt und vor allem, welche Quellen zu den teilweise haarsträubenden Behauptungen herangezogen wurden. Letztlich bin ich zu einer sehr einfachen und gleichsam traurigen Erkenntnis gelangt: Die gemeinsame Schnittmenge der Querdenker ist eine bedingungslose Ablehnung wissenschaftlicher Methode oder Rationalität. Die einzigen Argumente, die ich den Diskussionen und Aufnahmen von Demonstrationen entnehmen konnte, sind individueller und emotionaler Natur. Das macht sie nicht verboten, aber man muss sie als solche kennzeichnen.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d0/The_X-Files-Poster.jpg

Und damit wären wir wieder beim Thema Schwarmdummheit (auch dazu gibt's eine Podcast-Episode). Wenn Menschen sich gehört fühlen, folgen sie oft blind dem Anführer - so wie A. Hildmann oder A. Hitler (wobei der Vergleich zum Glück gewaltig hinkt). "I want to believe", so das Motto aus der Serie Akte X. Und tatsächlich sind wir so gut darin, dass der Glaube wirklich manchmal Berge versetzt - wenn wir nur konsequent genug an etwas glauben, finden wir plötzlich überall Belege dafür. Querdenker finden vielfach Belege für die wirren Behauptungen - in Blogs, auf einigen Youtube- oder Tiktok-Kanälen, von Nachbar Schneider. Das individuelle Weltbild wird damit verdichtet und alles ergibt einen gruseligen Sinn. Leider sind sie dann oft resistent gegen eine kritische Infragestellung ihrer Annahmen; also wirklich wissenschaftliches Vorgehen. Es ist nicht immer gut, der Masse zu glauben, aber wie wahrscheinlich ist es, dass >90% der unabhängigen Forschungsinstitute der Welt und daran angegliedert Millionen erfahrener Wissenschaftler:innen sich irren und eine globale Verschwörung der Superreichen unterstützen? Und wie wahrscheinlich ist es, dass Nachbar Schneider einfach nur seiner allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck verleihen will, in Wirklichkeit aber keine Ahnung von Viren und Politik hat?

Die pandemischen Auswirkungen der Querdenken-Bewegung sind inzwischen erforscht: wie Forscher:innen des Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim (ZEW) und der Humboldt-Universität zu Berlin Anfang Februar veröffentlichten, hatten die Querdenker-Demos einen erheblichen Anstieg der Inzidenz zur Folge. Heißt im Klartext: Querdenken-Demonstrationen haben Menschen getötet. Die fahrlässige Dummheit der Demonstrierenden ist das eine, das andere die Ohnmacht der staatlichen Gewalt - so hatten einige Gerichte (Judikative) Versammlungsverbote aufgehoben, Ansagen aus den Innenministerien und der Polizei (Exekutive) führten zu unklaren Befehlsketten, sodass schließlich Tausende ungehindert und ohne hinreichenden Infektionsschutz durch die Städte laufen konnten.

"Die Forschenden schätzen, dass bis Weihnachten zwischen 16.000 und 21.000 Covid-19-Infektionen hätten verhindert werden können, wenn diese beiden großen 'Querdenken'-Kundgebungen abgesagt worden wären" (ebd.). Bei einer Sterberate von ca. 3% heißt das, dass in diesem Zeitraum 480-630 Menschen durch Corona gestorben sind, weil Querdenker auf den Straßen ihre Freiheit gefeiert und anschließend Menschen in Bussen, Bahnen, Supermärkten und zu Hause angesteckt haben. Ich hoffe, ihr hattet Spaß. Es ist ruhiger um euch geworden, vermutlich (und das wünsche ich niemandem!) haben inzwischen viele von euch Angehörige oder Bekannte durch Corona verloren. Statistisch gesehen ist heute in ungefähr jedem achten sozialen Kreis ein Mensch in Deutschland an Covid-19 gestorben**. Bevor sich das Kind nicht selbst die Finger verbrannt hat, erkennt es auch nicht die generelle Gefahr des Feuers.

Corona: Neue Konfliktlinie der Gesellschaft

Corona spaltet die Nation(en). Und teilweise sogar Familien. Ob ich für oder gegen die Corona-Politik bin, kann sogar über meine berufliche Perspektive entscheiden. Wer bei Querdenker-Demos mitlief, wurde teilweise kurz darauf fristlos entlassen; und ich würde sagen, aus gutem Grund. Dass Familienangehörige sich zerstreiten, weil der eine an die Verschwörung glaubt, die andere mit ihren recherchierten Fakten aber auf Granit beißt, ist tragisch. Was das für den Zustand unserer Diskussionskultur aussagt, ist auf gesellschaftlicher Ebene verheerend.

Denn plötzlich ist es egal, was man bei der letzten Wahl angekreuzt hat - Corona ist endlich mal wieder eine neue Konfliktlinie, wie es sonst nur Atomkraft oder Kriege geschafft haben: ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Plötzlich ergeben die altbekannten Kategorien links vs. rechts keinen Sinn mehr. Wenn Hippies, Impfgegner und Neonazis gemeinsam marschieren, lecken sich Sozialwissenschaftler:innen die Finger. Andere machen sich Sorgen, dass das, wovor die selbsternannten Aufgewachten oder Erleuchteten warnen, Wirklichkeit werden kann: eine Diktatur. Die Angst davor wiederum wird nicht selten befeuert durch fiktive (!) Romane wie der von Dirk Rossmann beschworenen Öko-Diktatur (Rezension über "Der neunte Arm des Oktopus" hier). Doch mit Ängsten kann man natürlich gut spielen und Menschen damit manipulieren; das wissen die Drahtzieher hinter Querdenken genauso gut wie Goebbels und Himmler. Besonders perfide: Sie unterstellen ihren Gegnern (der Regierung, dem Robert-Koch-Institut, dem globalen Finanzkapital und Bill Gates...) exakt ihre eigene Startegie. Das ist praktisch, denn so muss man sich keine Verschwörung überlegen. Angela Merkel und Jens Spahn seien also durch und durch böse, verbreiteten Lügen, um ... ja, um was eigentlich genau? Jedenfalls ist das alles falsch, glaubt man den Querdenkern. Mit diesem Narrativ bringen sie auf bizarre Art und Weise Menschen dazu, hinter der Bundesregierung und dem Staat an sich eine totalitäre Elite zu vermuten, welche wiederum eigentlich Drahtzieher der Querdenken-Bewegung sind. Genial und furchtbar zugleich.

Wer sich die Mühe macht und dem Gesetzgeber wirklich auf die Finger schaut, weiß, dass sowohl die Bundes- und Landesregierungen als auch die Parlamente selbst die größten Schwierigkeiten hatten mit den weitreichenden, oft sehr kurzfristig und teilweise nicht durch Abgeordnete ratizifierten Maßnahmen. Aber das ist es, was der Souverän im Krisenfall tut: er entscheidet, weil die Gefahr für seine Bürger:innen größer ist als deren Ermessens- und Handlungsspielraum. Als in den 1962 Jahren die große Sturmflut vor allem die Menschen in Hamburg unmittelbar bedrohte, hat wohl niemand Demonstrationen gegen die Flut, gegen Fake News über eine erfundene Bedrohung durch Sturm und Wassermassen bis in die erste Etage organisiert. Helmut Schmidt hat damals weitgehend durchregiert. Und das hat vielen Menschen das Leben gerettet, wenn auch nicht allen. Ich habe die Sturmflut selbst nicht miterlebt, doch ich frage mich wirklich, ob es uns heute einfach zu gut geht?

Nun kann man eine Flut besser einschätzen als ein Virus. Wir Menschen sind da etwas beschränkt, immerhin können wir Viren sinnlich nicht wahrnehmen - sie sind einfach zu klein. Bevor es so etwas wie Zivilisation gab, hat sich darüber hinaus niemand geschert, wenn Viren die Runde machten: wir saßen weniger kompakt aufeinander als heute, konnten den Viren damit weniger attraktive Fläche zum Austoben geben und ob Onkel Otto nun an einem Urvater von Sars, Malaria, Hunger oder einem Säbelzahntigerangriff starb, was für die Statistik am Ende auch egal. Deutlich war, dass diejenigen in Ottos Stamm, die sich von den Gefahrenquellen ferngehalten haben, überlebt haben. Die natürliche Auslese haben wir durch moderne Gesellschaftsverträge jedoch (zum Glück!) ausgehebelt. Viele Querdenker wissen vermutlich nichts vom Erbe der Aufklärung oder den ziemlich stabilen Institutionen der Gewaltenteilung, und sie wissen ihre Privilegien in einem reichen Land wie Deutschland nicht zu schätrzen. Sie denken lieber an kurzfristige Glückshormone denn ans große Ganze. Erstaunlich, dass wir es als sprechende Affen soweit bringen konnten.

Wie wird der Corona-Sommer 2021: Zurück zu Normal? Nie wieder.

Machen wir uns nichts vor: Die Pandemie hat uns einen Spiegel vorgehalten. Einige haben sie zu Aufopferung, Selbstquarantäne, Doppelbelastung geführt. Andere haben ihr wahres, demokratie- und wissenschaftsfeindliches Gesicht gezeigt. Und wie geht es jetzt weiter?

Viele fordern ein Zurück zu Normal. Doch das wird es nicht geben. Die Pandemie hat nicht nur die ganze Menschheit in eine kollektive Krisenerfahrung gestürzt, sondern auch das Versagen einiger Gesellschaftsbereiche offenbart. Trotz der Warnungen diverser Kommissionen und Risikoberichte waren die wenigsten Staaten hinreichend vorbereitet - wir dürfen nur hoffen, dass wir daraus lernen. Denn diese Pandemie wird nicht die letzte gewesen sein. Zwar haben hochrangige Funktionäre der Weltgesundheitsorganisation WHO angedeutet, dass der Scheitelpunkt der Pandemie bereits erreicht sein könnte, doch darauf würde ich noch nicht wetten. Bleiben wir eher beim durchschnittlich wahrscheinlichen Szenario, dass sich das Virus und seine Mutanten noch für etwa ein Jahr erfolgreich reproduzieren können (ich hoffe, ich liege falsch).

In der naheliegenden Zukunft, also im Jahr 2021 heißt das folgendes:

  • das Impfgeschehen wird zwar voranschreiten, doch halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass das Versprechen der Kanzlerin eingehalten werden kann. Eine Woche vor der Bundestagswahl soll idealerweise Herdenimmunität erreicht sein; überambitioniert, wenn Sie mich fragen.
  • die Verteilung des Impfstoffs, und das ist gute und schlechte Nachricht zugleich, muss weltweit vorangetrieben werden. Der Teil der Geschichte fehlt im Großteil der Medienberichterstattung: wir sind nicht nur, aber auch deshalb so langsam, weil die Bundesregierung zumindest ein bisschen solidarisch handelt. Insbesondere die Unterstützung von Covax, dem Bündnis des globalen Nordens für die Unterstützung des globalen Südens in der Bereitstellung der Impfstoffe, dürfte noch zu einigen Nominierungen für Friedensnobelpreise führen.
  • der Klimawandel ist nicht verschwunden - zwar gingen die CO2-Emissionen 2020 leicht zurück, jedoch sinkt dadurch natürlich nicht die CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Die Polkappen und Permafrost in Grönland oder Sibirien ziehen sich weiter zurück, dadurch wird weniger Sonnenlicht reflektiert, der Klimawandel beschleunigt sich weiterhin. Nicht zuletzt durch den Wiedereintritt der USA zum Pariser Klimaabkommen ist die globale Marschrichtung klar: es wird mehr getan werden, um Emissionen zu reduzieren und alternative, umweltfreundlichere Wege zu finden, um unseren Lebensstandard aufrecht zu erhalten und den des globalen Südens anzugleichen. Keine leichte Übung. Konkret bedeutet das für den Sommer 2021: freuen Sie sich nicht zu früh, wenn Buchungsportale und Schnäppchenangebote zu (Fern-)Reisen locken wollen. Lesen Sie genau die Stornobedingungen, denn die Reisebschränkungen können und werden sich über Nacht ändern. Nicht gerade zugunsten der Reiselust. Viele erwarten nach dem kalten Winter einen sehr warmen Sommer - Urlaub würde ich nur im eigenen Bundesland planen, wenn überhaupt. Die großen Tourismusanbieter planen derweil auf Sparflamme, erwarten kein Zurück zu Normal, sondern dauerhaft geringere Reiseaufkommen - wer den längsten Atem hat, wird in zwei bis drei Jahren noch Reisen anbieten.
  • die Innenstädte darben nach Wiederöffnung der Geschäfte. Die Staatshilfen konnten viele auch kleinere Ladeninhaber:innen bisher über Wasser halten, doch sie brauchen den Zustrom der Massen; die erhöhten Versandquoten retten höchstens eine schwarze Null. Es nützt nichts. Ich erwarte einen großen Ansturm auf alles, was in den letzten harten Lockdown-Wochen und -Monaten verboten war. Daraufhin wird die Inzidenz besonders mit den neuen Covid-Varianten nach oben schnellen und noch bevor Dr. Drosten und das RKI "Inzidenzwert über 150!" aussprechen können, ist es zu spät: die exponentielle Steigerung ist dann für ein paar weitere Wochen vorgezeichnet, wir müssen wieder schließen, auch Grenzen. Ja, die lahmarschige Bürokratie im Gesundheitswesen trägt eine Teilschuld daran - vor allem aber die Sturheit der Menschen.
  • es wird eine teilweise Belebung des Veranstaltungssektors geben. Soweit zur guten Nachricht, die schlechte folgt sogleich: Eintritt nur mit (EU-)Impfpass oder tagesaktuellem, negativem Testergebnis. Aus meiner Sicht ein fairer Deal im Sinne der Gemeinschaft, für viele eine Zumutung. Viele Event-Agenturen, Produktionsfirmen, Messen oder Festival-Veranstalter sind jedoch vorsichtig und möchten nicht das Planungschaos von letztem Jahr wiederholen (warten Sie auch noch auf Erstattungen einiger Konzerte?) - daher wird das Angebot extrem beschränkt sein, die Platzanzahl begrenzt, die Preise höher - denn die Künstler:innen, Dirigent:innen und Produktionsangestellten verlangen zu Recht denselben Lohn, der sich dann aber auf weniger zahlende Gäste aufteilen muss. Eine neue Form der solidarischen Kulturszene muss sich von unten entwickeln, das heißt: auch durch Sie. Dazu gehört auch die gezielte Unterstützung von Initiativen, die Kulturschaffenden durch die Krise helfen, aber auch neue Erlösmodelle für alle Seiten - denn das wird durch die staatlichen Hilfen leider besonders vernachlässigt.
  • freuen Sie sich auch nicht zu früh über Schulöffnungen. Ich schätze, dass es spätestens im Herbst zu einer gewaltigen Eruption im Schul-, Universitäts- und Ausbildungsbereich kommen wird. Es ist eine Schande für dieses Land, dass etwa ein Jahr nach Beginn der Pandemie noch immer keine vernünftigen Konzepte für Remote / Home Schooling vorliegen, Gesetzgeber, Schulleitungen und Lehrkräfte bekleckern sich mit allem, nur nicht mit Ruhm. Die über Jahrzehnte sträflich vernachlässigte Unter-Förderung von Lehrkräften, die Konservierung alter Werte statt "neuer" Erkenntnisse der Bildungsforschung, die kategorische Ablehnung digitalisierter Lernmethoden und -inhalte (Stichwort Medienbildung, Informatik als Pflichtfach...) könnten zu dem größten Bildungsvakuum seit dem zweiten Weltkrieg beitragen.
  • eine wesentliche Ursache des Aufkommens und der Verbreitung von Pandemien sind Bewegungsmuster und Klimarahmenbedingungen. Je mehr Kontakte zwischen den Wirten, desto besser fürs Virus. Je wärmer und feuchter, umso wohler fühlen sich Viren. Beide Bedingungen unterstützt die globalisierte und ökologische Faktoren ignorierende Gier der Menschheit. Die derzeitige Form des Kapitalismus, der Mobilität, der Energiewirtschaft hat uns geradewegs in die Pandemie geführt. Davor habe ich (und viele andere) gewarnt, doch letztlich ist business-as-usual einfacher als eine ernsthafte Reflexion oder gar die Absicht, grundlegende Dinge zu ändern.

Klingt ziemlich düster, ist es auch. Aber es lässt gerade noch ein bisschen Luft für Optimismus, denn genau jetzt ist noch Zeit, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Es ist die Zeit, gescheiterte Konzepte gnadenlos an den Pranger zu stellen und die Zeit bis zu den Bundestagswahlen zu nutzen, die Programme aller Parteien zu prüfen. Fragen, die ich mir dabei stelle:

  • Wer setzt sich für eine fundamentale Neuausrichtung des Bildungssektors ein?
  • Wer hat den besten, realistischen Plan für die Erreichung der Klimaziele?
  • Wer schaut über den Tellerrand der nächsten Legislatur und behandelt die Themen, die bis 2050 wichtig werden, und richtet darauf das Programm aus?
  • Wer denkt auch in dieser Pandemie, die uns noch ein paar Jahre beschäftigen wird, nicht nur an die Lobby, die gerade am lautesten schreit, sondern bündelt Maßnahmen, die für alle funktionieren?
  • Gibt es überhaupt eine etablierte Partei, die nicht in der traditionellen Machtallokation gefangen ist, sondern wirklich nach Werten und Zielen handelt?
  • Wagt eine Partei mehr Demokratie an den Stellen, wo sie sinnvoll ist?

Noch eine Pandemie in diesem Ausmaß können wir uns alle nicht leisten. Nutzen Sie Ihre Stimme weise.

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* das gilt vor allem für die Unionsparteien CDU und CSU. Bei der AfD knickt das Wähleralter ab 70 wieder ein - denn die können sich noch daran erinnern, was die Vorgängerpartei (NSDAP) durch ihr Programm mit ihnen oder ihren engsten Angehörigen angerichtet haben.

** Die Formel dafür lautet: 82.000.000/68.000/150. 82.000.000 Menschen leben gerundet in Deutschland, 68.000 sind (abgerundet) bis zum heutigen Tag laut Statista an Covid-19 gestorben, 150 ist die ungefähre Größe eines sozialen Umfelds, also die Anzahl der Menschen, die Sie persönlich gut kennen. Das ist an vielen Ecken sehr unsauber gerechnet, aber ich bin Sozialwissenschaftler, kein Mathematiker, Virologe oder ähnliches. Was die Modellrechnung verdeutlicht: Menschen müssen (wie kleine Kinder) erst merken, dass es wehtut, bevor sie etwas verstehen. Querdenker sind die Kinder der Nation, könnte man sagen.


World Economic Forum at en.wikipedia, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Weltwirtschaftsforum WEF Davos 2021: Xi & Merkel und die Tianxia

Diese Woche findet / fand das Weltwirtschaftsforum von Davos (World Economic Forum, WEF) statt - natürlich digital. Ich habe mir die wichtigsten Botschaften angeschaut.

Wer es nicht kennt: beim Weltwirtschaftsforum treffen sich seit 1971 Staats- und Regierungschefs, Unternehmensvorstände und führende zivilgesellschaftliche Akteure. Der Gründer, Prof. Dr. Klaus Schwab, hatte es ursprünglich als Europäisches Management Forum ins Leben gerufen und seit 1987 - zufälligerweise mein Geburtsjahr - auf die globale Bühne gebracht. Ich möchte allen die hervorragenden Studien des Weltwirtschaftsforums ans Herz legen, beispielsweise zu den Themen "Future of Jobs" oder "Global Risks". Aber nun erstmal zur aktuellen Lage.

Xi Jinping trump(f)t beim Weltwirtschaftsforum mit großen Worten

Der chinesische Staatschef Xi Jinping hat es sichtlich genossen, nach der vierjährigen Isolation der Weltmacht USA mit großen Worten und Versprechen sein Land zu positionieren. Was steckt dahinter?

Führende politische und ökonomische Analyst*innen weltweit rechnen fest damit, dass China schon sehr bald die USA als Hegemonialmacht ablösen wird. Die Frage, die uns in Europa umtreibt, ist nicht, ob dieser bevorstehende Machtwechsel eintreten wird, sondern wie er aussehen wird. Und Xis Rede beim wichtigsten geopolitischen Format lässt hoffen - stimmt aber auch skeptisch.

China hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine atemberaubende Wende vom Entwicklungsland zum Global Player vollzogen. Die strikte Führung der Kommunistischen Partei hat mit ambitionierten Fünfjahresplänen immer wieder Wachstumsrekorde aufgestellt, geht dabei auch im wahrsten Sinne über Leichen. Die kürzlichen Eingriffe in einige der größten Unternehmen des Landes (und der Welt) wie Alibaba, dessen Gründer Jack Ma zeitweise unerklärlich von der Bildfläche verschwand, sind da nur die Spitze des Eisbergs - oder wenigstens eine maximal konsequente Kartellpolitik mit fragwürdigen Mitteln. Die Diskriminierung und Verfolgung einiger Volksgruppen wie der Uiguren passt weder zum "westlichen" Humanismus noch zu der Rhetorik in öffentlichen Auftritten des Staatspräsidenten.

Haben Xis Redenschreiber von Obama abgeschrieben?

Die Rede von Xi könnte mit einigen Ausnahmen auch von einer europäischen oder der neuen US-amerikanischen Regierung stammen. Weniger pathetisch vorgetragen, da wird nichts dem Zufall überlassen. Er spricht darin natürlich über die Corona-Pandemie und den "Global Reset". Vor allem mahnt er die Staatengemeinschaft zu Frieden, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit. Er prangert exklusive Politik an und wirkt erleichtert über den US-Regierungswechsel, um vor allem ökonomische Lieferketten wiederherzustellen.

Tatsächlich erwähnt Xi indirekt die Tianxia, über die ich einen kurzen Beitrag verfasst habe. Das, was in den Politikwissenschaften und auch der Zukunftsforschung "Global Governance" genannt wird, benennt Xi unmissverständlich als globale, multilaterale Kooperation - basierend auf unseren geteilten Werten und international verbindlichen Regeln, anstatt auf Machtstrukturen, die von einem oder wenigen Akteuren ausgenutzt werden, um singuläre Interessen durchzusetzen. Welche geteilten Werte das abgesehen von Floskeln sind, bleibt vage.

Internationale Gemeinschaften wie die Vereinten Nationen und sogar der Internationale Gerichtshof lobt der chinesische Staatschef ausdrücklich. Allerdings fordert er von anderen Staaten, Unterschiede zu respektieren und staat Wirtschaftskriegen den Dialog bei Meinungsverschiedenheiten zu suchen. Einen neuen Kalten Krieg gilt es ebenso wie die gängige Nullsummen-Mentalität zu verhindern. Besonders gefällt mir als Zukunftsforscher natürlich die Phrase "take on new perspectives and look to the future".

Da Xi direkt die WHO oder WTO adressiert und eine Stärkung dieser globalen Institutionen fordert, klingen seine Worte tatsächlich global kompatibel, zumal er explizit die Unterstützung von Entwicklungsländern, globale digitale Governance und grünen Fortschritt als Leitlinien der Politik fordert. China will seinen CO2-Peak noch vor 2030 erreichen, CO2-Neutralität vor 2060 - und das bei einer weiterhin wachsenden Volkswirtschaft. Wir dürfen gespannt sein.

"Nullsummenspiel oder winner-takes-all ist nicht die Leitphilosophie des chinesischen Volkes."*
Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum 2021

Klar, ein bisschen Eigenlob muss auch sein. Die moderne sozialistische chinesische Gesellschaft hat als erster Staat der Welt das Covid19-Virus eingedämmt und bietet großzügig seine Kooperation in der Pandemie an. Denn: die Leben der Menschen sind das wichtigste Gut. Wow.

Mein Fazit zu Xi Jinpings Rede

Diese Ansagen stehen zum Teil im derben Kontrast zu den faktischen Entscheidungen und Handlungen des Landes. Die Welt schaut gebannt nach China - wird der neue Fünfjahresplan, vergleichbar mit dem Marshall-Plan der Nachkriegszeit, als Xi-Plan in die Geschichtsbücher eingehen? Das hängt vielleicht auch ein bisschen davon ab, wer diese verfassen wird.

"Ladies and gentlemen, friends. There is only one earth and one shared future for humanity. ... We need to stand united and work together. ... Let us all join our hands and let multilateralism light our way toward a community with a shared future for mankind."
Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum 2021

Merkel stellt beim Weltwirtschaftsforum 2021 "Great Reset" infrage

Exakt ein Jahr nach der ersten Covid19-Infektion in Deutschland war am 26.01.2021 dann Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel dran. Zu Beginn ihrer Rede stellt sie zunächst den Begriff des "Global Reset" infrage, befasst aber sich lieber mit drei Fragen:

1. Konnte sich die globale Kooperation beweisen?

Das Virus habe uns nun endlich Globalisierung erklärt - Abschottung klappt nicht, wir brauchen mehr Zusammenarbeit. Die Pandemie hat indes die Souveränität einiger Länder infrage gestellt, die von globalen Lieferketten abhängig sind. Also fast alle. Dabei spricht sich Frau Merkel aber klar gegen Protektionismus aus. Auch sie betont immer wieder, wie entscheidend heutzutage ein multilateraler Ansatz ist - z.B. bei Impfungen (Covax als solidarisches Prinzip). Diese gegenseitige Unterstützung innerhalb der Staatengemeinschaft darf aber nicht im Nachhinein ausgenutzt werden für machtpolitische Spielchen, denn:

"Es ist die Stunde des Multilateralismus ... nicht nur irgendwie zusammenarbeiten, sondern auch transparent zusammenarbeiten."
Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum 2021

Immerhin sei Entwicklungshilfe auch im nationalen Interesse und dazu gehört auch, die Verbindungen nach Afrika weiter zu stärken. Mehr fairer, weltweiter Handel, stärkere WTO-Strukturen und den asiatischen Aufschwung mitbegleiten. Andererseits müssen Subventionen und Investitionen immer beiden Seiten dienen und transparent sein, damit alle Menschen von Hightech-Kooperationen und Arbeitsnormen (ILO) gleichermaßen profitieren können.

Ganz kurz fällt auch die Forderung nach einer Mindestbesteuerung digitaler Unternehmen und Wettbewerbsrecht vs. Monopole - da hat sie in Xi Jinping sicher einen guten Fürsprecher. Wir wissen alle, dass diese Lippenbekenntnisse unverbindlich sind. Schließlich sieht Merkel verhaltene Wachstumsaussichten in Europa und anderen Teilen der Welt, weshalb sie in Summe zuversichtlich, wenn auch sichtlich gestresst ist.

Kurz: Tianxia.

2. Sind unsere Gesellschaften verwundbar?

Unsere Abhängigkeit von der Natur und globalen Lieferketten wurde uns ziemlich rabiat durch ein winzig kleines Virus vorgeführt. Versäumnisse in der Nachhaltigkeit, dem Schutz der Biodiversität und dem Abwenden des Klimawandels - kurz, die Inhalte des Pariser Abkommens - haben die Entstehung und Entwicklung der Pandemie begünstigt. Der EU-Green Deal muss entsprechend konsequenter und ambitionierter umgesetzt werden. Und schneller. Dabei werden teilweise auch unliebsame Entscheidungen durchgesetzt werden müssen, aber es müssen alle Menschen mitgenommen werden. Da ist sie wieder, die "Alternativlosigkeit".

Das Konjunkturpaket des Bundes wiederum sei konsequent an "Zukunfsinvestitionen" gekoppelt: 20% müssen für Digitalisierung aufgewendet werden, 50% für Nachhaltigkeit. Doch bei allen Anstrengungen, die Pandemie zu überstehen, dürfen die Industrieländer sich nicht zu sehr auf sich selbst konzentrieren, sondern die Entwicklungszusammenarbeit eher noch verstärken. Denn wie immer trifft es die Ärmsten am härtesten.

Kurz: Wir sitzen alle im selben Schlauchboot auf einem rauen Ozearn. Wir müssen zwar den aktuellen Sturm überleben, dabei aber auch darauf achten, beim aktuellen Manöver kein Loch in die Rückseite des Boots zu reißen.

3. Sind wir widerstandsfähig genug?

Die "Jahrhundertkatastrophe" hat Schwachstellen in unseren Gesellschaften offengelegt. Der grundlegende Zusammenhalt der Bürger*innen hat dennoch - trotz der föderalen Strukturen - in Summe funktioniert. Sie gesteht Fehler ein, die oft auch infolge der langwierigen bürokratischen Prozesse entstehen. Dennoch hat die Entschlossenheit und ein vergleichsweise gut aufgestellter Fiskus dazu beigetragen, die Konjunktur zu stützen.

Der "Mangel an Digitalisierung" wurde ebenso offenkundig und bremst uns aus - Merkel mahnt sehr klar die Missstände im Gesundheits- und Bildungssystem an. Die Selbstkritik ist zwar nett gemeint, aber kommt dann doch etwas zu kurz. Andere Analysten sehen die Gesellschaft gespalten - dazu kein Wort.

Kurz: Wir müssen resilienter werden!

4. Eigenlob

Eigenlob widerstrebt der herkömmlichen deuschen Seele, daher gleitet Merkel erwartungsgemäß schnell ab. Die Forschung sei zwar in ihrer Amtszeit deutlich vorangegangen, auch protenzual am BIP, und das hat uns auch in dieser Krise geholfen. Dieser Punkt bringt sie gedanklich direkt zur kritischen Fragestellung hinaus in die Welt, wie das Verhältnis von Worten und Taten ist. Damit verbindet sie die klare Kritik an Chinas Kommunikation zu Beginn der Pandemie; will jedoch nicht nur schimpfen, sondern vor allem daraus lernen.

Einen kleinen Sidekick über den großen Teich kann sie sich nicht verkneifen und lobt den Wiedereintritt der USA in die WHO, nachdem Bidens Vorgänger vier Jahre lang einen Stillstand der gedeihlichen globalen Zusammenarbeit provozierte.

Merkels Fazit

"Pandemie kann als Bestätigung all dessen gelten, was in den letzten Jahren den Geist von Davos ausgemacht hat. Die Fragen, die diskutiert wurden, waren richtig, aber entsprechend dem deutschen Schriftsteller Erich Kästner haben wir ein Sprichwort: 'Es gibt nichts Gutes, außer man tut es'"
Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum 2021

Nach Frau Merkel ist das Reden und Diskutieren natürlich wichtig, aber jetzt kommt ein "Zeitraum des Handelns" möglichst nach gemeinsamen Prinzipien. Nehmen wir sie beim Wort!

Mein Fazit zu Dr. Angela Merkels Rede

Frau Merkel stellt den "Great Reset" infrage, begründet aber nicht genau, was sie meint. Was sie meiner Meinung nach sagen möchte, ist: es wird kein Zurück zum alten Normal geben. Doch bleibt sie uns - wie immer - eine Vision schuldig. Oder ist das in didaktisch kluger Schachzug, um die Zivilgesellschaft zum Erarbeiten einer Vision aufzurufen?

Ihre drei Kernthemen sprechen zwar wichtige Herausforderungen an, doch Merkel wirkt wenig souverän bei der Ausführung; sie stockt öfter als üblich, wirkt überarbeitet, räuspert sich oft und "ähmt" oft. So richtig will mich die Rede einfach nicht inspirieren. Wir wissen alle, dass es gewisse Pfadabhängigkeiten gibt. Diese dürften auch dazu führen, dass große Unternehmen schneller gerettet werden als Branchenzweige im Mittelstand - ein großer Fehler. Auch die bestehenden Subventionen bspw. für konventionelle Landwirtschaft, Importe nicht nachhaltiger Waren oder Rüstungsexporte in Kriegsgebiete unterliegen diesen Abhängigkeiten.

Auf der anderen Seite verdienen Beschäftigte in den Epizentren der Pandemie heute nicht mehr als zu Beginn der Pandemie, also primär in Kliniken, Heimen und dem Rest des Gesundheitssektor - trotz Doppelbelastung, leeren Versprechungen und der oft als höhnisch wahrgenommenen Geste applaudierender Mitbürger*innen. Es ist ein Wunder, dass das System noch nicht kollabiert ist und ist wohl der intrinsischen Motivation der Health Worker zuzuschreiben.

Gesamtfazit zum Weltwirtschaftsforum 2021

Hätte Joe Biden einen Beitrag geleistet, hätte ich auch diesen kommentiert. So taucht der neue US-Präsident nur passiv auf, aber wie in meiner Szenarioanalyse zur US-Präsidentschaftswahl beschrieben, wird er sich wohl beim "echten" Weltwirtschaftsforum in Singapur im Mai äußern. So bekommt er lediglich sein Fett weg, da die neue Administration weiterhin an der Politik des "buy at home", also "America first light" festhält. Abgesehen von vielen wichtigen Kehrwenden zum Trump-Trauma ereilt Biden und seine Gefolgschaft das Los der Abwesenden.

Xi Jinping und Angela Merkel füllen entsprechend das fortdauernde geopolitische Machtvakuum liebend gern aus. Sie trumpfen mit großen Ansagen für globale Kooperation, freien Handel, Menschenrechte und, das werden beide nicht müde zu betonen, den ambitionierten Kampf gegen den Klimawandel noch entschiedener zu führen.

  • Xi verspricht viel, konnte in seiner aktuell knapp achtjährigen Amtszeit auch vieles halten - ist aber natürlich nicht der Heilige, als der er sich inszeniert. Staatliche und kollektive Ziele stehen in China traditionell über der Würde des Menschen und es bleibt abzuwarten, ob die Ambitionen des Reichs der Mitte an der Spitze der geopolitischen Nahrungskette den Versprechen der Führung gerecht werden können. Walk the walk!
  • Merkel hatte nun 16 Jahre, um wirksame, ökologisch nachhaltige Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Sie und ihre wechselnden Kabinettsmitglieder konnten vielleicht Schlimmeres verhindern - doch wie so vieles aus ihrer Legislatur, bleiben die Fortschritte infolge des moderaten Mittelweges und dem "Primat der Raute" leider genau das: mittelmäßig.
  • Wladimir Putin sprach übrigens auch: Viele Worte, wenige Inhalte. Er liefert exakt das, was zu erwarten war: Weltfremdes Eigenlob ohne ein Wort zu den eigenen Völkerrechtsverletzungen (Georgien, Ukraine, Bergkarabach). Es lässt sich kaum ein Unterschied zu einer Stalin-Rede finden und genau das könnte es sein, was der Kreml damit bezwecken will. Das einzige Machtinstrument Russlands bleibt nach dem Abschied von der geopolitischen Realität das Atomwaffen-Arsenal - immerhin das ist durch den New START Vertrag begrenzt. Putins Freiheitsbegriff war nie weiter entfernt vom globalen Konsens - das könnte noch knallen. Hoffen wir das Beste.

Das verbale Anmahnen von "Taten statt Worten" könnte genau das bleiben, was es ist: leere Worte. Es müssen stattdessen klare und unbequeme Einschnitte verabschiedet werden, um die skizzierten Ziele ernsthaft anzugehen. Gemäß der klassischen Verhandlungstheorie sollten dies klar formulierte Forderungen gegenüber WHO, WTO und UN sein, inklusive Nachkommastelle.

* im Original: "Zero-sum-game or winner-takes-all is not the guiding philosophy of the Chinese People", Xi Jinping, 25. Januar 2021 beim Weltwirtschaftsforum Davos, "Full Video: Xi Jinping delivers speech at WEF Davos Agenda 2021 via video link", at 22:10. Online.

Fun Fact: Indiens Premierminister Narendra Modi, dessen Land immerhin 18% der Weltbevölkerung beheimatet, war der einzige, der ohne Skript sprach. Und der darauf hinwies, dass man vielleicht den generellen Gesundheitszustand der Menschen infragestellen muss. Ansonsten eher ein Werbeclip für Investoren.


Imagefilm Kai Gondlach Screenshot

Imagefilm 2021 (Showreel)

Mein neuer Imagefilm bzw. Showreel ist online: Schauen Sie sich an, wie ich auf der Bühne oder vor der Kamera auftrete! Seit der Coronapandemie bin ich auch im Heimstudio bestens ausgestattet mit Greenscreen, professioneller Mikrofontechnik von Rode sowie professioneller Lichttechnik von Neewer.

https://youtu.be/_ravcpTtZAI

Dirk Rossmann Der neunte Arm des Oktopus

Der neunte Arm des Oktopus von Dirk Rossmann (Rezension)

Dieses Mal möchte ich mich an der Besprechung eines Romans versuchen – ja, ich lese auch gelegentlich Nicht-Sach-Bücher. Der Tipp zu "Der neunte Arm des Oktopus" von Dirk Rossmann kam von einem guten Freund, der das Buch selbst noch nicht gelesen hatte, aber von der Veröffentlichung Wind bekommen. Es gehe um Nachhaltigkeit und sei ein Polit-Thriller, „das ist doch bestimmt was für dich und deine Fans!“

Also bestellte ich das Buch und las die gut 400 Seiten an zwei Abenden. Zugegeben, es waren lange Abende und eventuell hat auch das eine oder andere Weinglas seinen Inhalt dabei an mich verloren. Der Inhalt des Thrillers wiederum ließe sich, um im Bild zu bleiben, so darstellen: mittelmäßiger Wein in teuren Gläsern. Das teure Glas steht in diesem Bild für das schicke Cover und den horrenden Marketingaufwand hinter der Buchproduktion. Immerhin klimaneutral gedruckt.

Spoiler-Alarm!

Worum geht’s?

Angesichts der Klimakatastrophe beschließen die drei mächtigsten Staaten – die USA, Russland und China – den politischen Alleingang. Sie formieren sich als G3 und pochen auf sehr viel ambitioniertere Klimagesetze, um einen schnellen Wandel zu einer emissionsfreien Weltwirtschaft zu bewirken. Notfalls wollen sie diese auch mit militärischer Gewalt durchsetzen, Skeptiker nennen die G3 deshalb „Öko-Diktatur“. Es bildet sich eine Verschwörung aus höchsten Militärkreisen, die ihre Regierungen stürzen will – es kommt zum Showdown in Brasilien. Die ungewöhnliche Schlüsselrolle spielt ein Koch. Warum auch nicht. Ach so, der Oktopus lebt übrigens in der Zukunft und spielt keine erhebliche Rolle.

Was war gut?

Die Rahmenbedingungen für die Entstehung der Geschichte sind weit von Fiktion entfernt. Die Geschichte ist gespickt mit Prognosen der führenden Klimaforschungsinstitute, darunter auch vom Weltklimarat bzw. IPCC. Diese sind unaufgeregt in die Geschichte eingewoben, welche in der jüngeren Vergangenheit, der nahen Zukunft sowie dem Jahr 2100 spielt.

Auch dafür gibt es einen Pluspunkt: die verschiedenen Erzählstränge sind nett miteinander verwoben. Die Geschichte springt immer mal wieder zwischen den Kontinenten, die Kapitel sind sehr kurzgehalten, einige füllen keine Doppelseite. Dadurch liest sich das Buch tatsächlich sehr schnell und unkompliziert. Aber genau an der Stelle beginnt die Kritik.

Was war nicht so gut?

Klimakatastrophe und Stereotype

Der Autor hat ein unheimlich wichtiges Thema als Kernhandlung ausgewählt: die Klimakatastrophe als größte Herausforderung der Menschheit. Einigermaßen glaubwürdig wird im Klappentext und Epilog Dirk Rossmanns Engagement für Nachhaltigkeit und internationale Beziehungen dargestellt. Doch geht dieses Engagement leider in den vielen kurzen, oft oberflächlichen Dialogen zwischen stereotypen Charakteren unter. Allein die Beschreibungen des kleinen Chinesen, des grobschlächtigen Russen, der empathischen US-Präsidentin sowie eines „großen“ Nigerianers (die Anspielung ist nicht nur auf seine Körpergröße) haben mich bei der Lektüre so manches Mal aufgeschreckt.

Verschwörung?

Daneben tauchen immer wieder Begriffe auf, die ohne Kontextualisierung leider bei vielen Leserinnen und Lesern nicht den Effekt erreichen werden, den sich der Autor wohl auf die Fahnen geschrieben hat. Die Syntax lebt von Begriffen wie „Öko-Diktatur“ und anderen Verschwörungsthemen, die stark an die „New World Order“-Erzählung angelehnt sind. Verschwörungsfans, die dieses Buch lesen, werden danach überzeugte G3-Gegner*innen sein. Für mich ist nicht klar, ob der Autor selbst nun an die Verschwörung glaubt oder nicht - die Fiktion der Charaktere ist leider nie ganz glaubwürdig.

Zukünftedenken: mangelhaft

Es gelingt dem Autor leider nicht, sich in dem Szenario 2100 von heutigen Denkmustern zu trennen. Zwar präsentiert eine der Figuren in der Zukunft stolz ihre neue Kücheneinrichtung, deren Hightech-Ausstattung die Freunde begeistert. Auch einige Healthtech-Anwendungen werden besprochen. Die Haltung der Figuren wiederum zu neueren Entwicklungen wirken jedoch antiquiert, obwohl es sich um eine Gruppe hochrangiger Forscher*innen und Praktiker*innen handelt. Ich hätte mir als Leser noch mehr Beschreibung der Welt in 80 Jahren gewünscht und ein paar Aussagen dazu, was auf dem Weg dahin alles passiert ist. Dass man zum Mars fliegen kann, ist nicht so besonders aufregend. Um in Zukunftsforscher-Worten zu sprechen: das Denken in Zukünften ist dem (Science Fiction) Autor leider misslungen.

Fazit

Das Buch hätte davon profitiert, ein paar ausführliche Schleifen bei einem* Ghostwriter mit Roman-Erfahrung zu drehen. Die Stoßrichtung ist interessant, die Verästelungen aber nicht zu Ende gedacht und durch die wenig detaillierten Beschreibungen und zu kurzen Kapitel taucht man nie wirklich in die fiktive Welt ein. Durch den sehr frühen Aufhänger mit dem Koch erhält die Spannungskurve etwas Groschenromanhaftes. Die persönliche Vernetzung des Autors zu sehr wichtigen Personen wird für meinen Geschmack etwas zu stark betont.

Leseempfehlung: Nur, wenn man nichts Besseres vor und Lust auf mittelmäßigen Wein hat.


Szenariotechnik

Szenarien geistern durch die Medien wie Fruchtfliegen um einen sommerlichen Obstteller. Ähnlich hilfreich sind sie meist. Der Begriff „Szenario“ ist nicht geschützt, was dazu führt, dass jede*r Journalist*in oder Trendforscher*in sich eine Geschichte ausdenken und diese Szenario nennen kann. Das ist auch bequem. Nur leider hat das nichts mit Forschung oder gar Wissenschaft zu tun. Auch in vielen BWL-nahen Studienfächern ist die Szenarioentwicklung leider stark komprimiert. In der Regel betrachtet man dann nur ein Status-Quo-Szenario, ein positives und ein negatives Szenario. Das hat nur mit den realen Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren wenig zu tun, taugt eher für einen internen Strategieprozess, nicht aber für die Abbildung komplexer, externer Sachverhalte.

Daher möchte ich hier die ausführliche Szenariomethode, wie sie die akademische Zukunftsforschung (oft) praktiziert, mit Ihnen teilen. Was ich damit sagen will: Es ist alles andere als trivial, sich Szenarien zu überlegen. Und wie so oft wird im Ergebnis nicht auf den ersten Blick deutlich, wie viel Arbeit und Zeit in den recht formalisierten Prozess fließt.

Wenn Sie eher an einem konkreten Beispiel interessiert sind, schauen Sie am besten hier vorbei: Szenariotechnik US-Wahl

Abgrenzung Szenarien der Zukunftsforschung

Es gibt zwei fundamentale Unterschiede zwischen Alltagsszenarien und solchen, die in formalisierten Prozessen entstehen. Szenarien der Zukunftsforschung sind…

  • formalisiert statt intuitiv. Bauchgefühl kann jede*r.
  • konsistent und plausibel statt wahrscheinlich. Warum das wichtig ist, folgt später.

Wichtig: Mit Szenarien sagen wir nicht die Zukunft voraus, sondern schaffen Orientierungswissen für strategische Entscheidungen, gewissermaßen wenn-dann-Pfade, die im späteren Eintreten oder der Veränderung wichtiger Variablen Gold wert sein können.

Erste Schritte im Szenarioprozess

Zu Beginn eines Szenario-Prozesses müssen zunächst ein paar grundsätzliche Fragen geklärt werden:

  • Modalität: explorative oder normative Szenarien?
  • Zeitbezug: Situations- oder Verlaufsszenarien? Welcher Zeitrahmen – fünf, zehn, hundert Jahre?
  • Fokus: System-, Umfeld- oder Gemischtszenarien?
  • Kontinuität: Referenzszenarien (Trend-, Status Quo- oder Business-as-usual-Szenarien?) oder Kontrastszenarien mit Wild Cards, Worst oder Best Cases?

Des Weiteren sind natürlich die üblichen Fragen eines jeden Strategie- oder Forschungsprojekts zu klären. Welchen Zweck hat dieser Prozess? Welche Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken (SWOT-Analyse) sind bekannt?

Szenariotechnik: Einflussfaktoren identifizieren

Die wichtigsten Einflussfaktoren auf unsere Thematik – ein Unternehmen, eine politische Agenda oder ein Ökosystem? Hierzu habe ich als Analyserahmen einen Zlogbeitrag für die Foresight-Umweltanalyse verfasst. Wir analysieren also die Dimensionen Wirtschaft, Ökologie, Gesellschaft, Ethik, Wissenschaft, Administration, Recht, Politik und Technologie daraufhin, ob sich in diesen Bereichen einflussreiche Treiber, Trends oder Akteure finden lassen. Das klappt am besten im Team.

Dieser Rahmen hilft uns dabei, aus der Fülle verfügbarer Informationen die relevanten zu filtern. Schließlich identifizieren wir Treiber und Trends, die wir auf Faktoren herunterdampfen. In einem Workshop-Setting bewerten wir nun die Relevanz der gefundenen Faktoren – hierzu benötigt es zunächst keine ausufernde Diskussion, sondern je nach verfügbarer Zeit oder Budget die kommentarlose Einschätzung der Teilnehmer*innen auf einer Skala von null bis fünf. Die Null steht für keinen Einfluss, die fünf zählt für sehr großen Einfluss. Die Skala sollte nicht zu groß sein, hier geht es um Tendenzen; und wichtig ist, dass die Anzahl der verfügbaren Optionen gerade ist, damit es keine Mitte gibt. Bilden Sie die Mittelwerte der Einschätzungen; nur bei erheblichen Abweichungen wird diskutiert.

Die daraus resultierende Liste dürfte recht lang sein. Je nach Umfang des Themas und Zeithorizont des Szenarios können sich hier Dutzende, manchmal gar Hunderte Faktoren zusammenfinden. Macht nix, allein diese Liste ist eine stümperhafte Reduktion der reellen Komplexität „da draußen“. Und genau der Aspekt ist mir auch sehr wichtig: es handelt sich schon jetzt um ein Modell der Realität und jede Annahme ist subjektiv, kann und wird also nicht die zukünftige Realität treffen können. Aber wir können uns konsistenten Szenarien der kommenden Wirklichkeit nähern, wenn wir uns wirklich Mühe geben bei der Durchführung dieser Schritte.

Beispiele für gängige Einflussfaktoren:

  • Bruttoinlandsprodukt
  • Arbeitslosenquote
  • Durchschnittstemperatur
  • Anzahl von Unternehmensgründungen
  • Datenschutzregulierung
  • Normen
  • Patentanmeldungen
  • Technologische Innovation
  • Bevölkerungsentwicklung

Es geht hierbei noch nicht um die Ausprägungen, sondern rein deskriptiv um die Sammlung aller denkbaren Einflussfaktoren. Diese sollten möglichst generisch und wertfrei formuliert sein.

Szenariotechnik: Schlüsselfaktoren definieren

_impact uncertainty vorlageWelche der definierten Einflussfaktoren sind die wichtigsten? Sie haben ja jetzt eine lange Liste mit wichtigen Einflussfaktoren. Nun geht’s ans Eingemachte: welches sind die zentralen Treiber der Entwicklung? Welche Faktoren müssen unbedingt berücksichtigt werden, haben also den höchsten Durchschnittswert aus dem letzten Schritt? Und welche wiederum setzen sich in der Wechselwirkungsbetrachtung als besonders vernetzt durch, beeinflussen als ihrerseits viele andere Faktoren? Welche sind besonders ungewiss und trotzdem potenziell einflussreich? Für letztere Frage verwenden Sie am besten eine sogenannte Impact-Uncertainty-Matrix (Einfluss-Ungewissheit-Matrix) wie rechts im Bild.

Jetzt erhalten Sie eine kürzere Liste als eben; wenn Sie eben noch 50 Faktoren hatten, sind es jetzt vielleicht noch zehn. Es ist ratsam, die maximale Anzahl der Schlüsselfaktoren auf 20 zu begrenzen, um nicht allzu ausufernd zu werden. Der komplexen Realität werden Sie natürlich mit mehr Faktoren eher gerecht, doch erhöht jeder weitere Faktor auch den Aufwand, Kosten und benötigte Zeit überproportional.

Beantworten Sie nun für jeden der Schlüsselfaktoren die Fragen, wie stark dieser einzelne Faktor den Untersuchungsgegenstand beeinflusst und wie unsicher die weitere Entwicklung ist. Wenn Sie mögen, können Sie eine Extrarunde machen und die Wahrscheinlichkeit auf einer Skala einschätzen, um mögliche Wildcards zu identifizieren. Die Wildcards fließen nicht explizit in die weiteren Szenarioschritte ein, sind jedoch wichtig, um sie immer wieder ins Bewusstsein zu rufen.

Für jeden dieser nun gewählten Faktoren überlegen Sie in einem Brainstorming-Prozess, welche alternativen Zukunftsentwicklungen bzw. Projektionen denkbar sind. Das sind für jeden Schlüsselfaktor etwa drei bis sechs Varianten. Bilden Sie hierfür auch praktische Grüppchen, denn uns geht es ja nicht um die punktgenaue Vorhersage der konjunkturellen Entwicklung, sondern um Trends. Für den Einflussfaktor „Bruttoinlandsprodukt“ könnte dies etwa so aussehen:

  • Wächst deutlich < 5 %
  • Wächst etwas 2-5 %
  • „Schwarze Null“ 0,5-2 %
  • Stagniert 0-0,5 %
  • Sinkt etwas -0,5-2 %
  • Rezession -2-5 %
  • Starke Rezession > 5 %

Zugegeben, diese Reduktion wirkt schon fast stümperhaft. Wenn Sie sehr viel Zeit und Budget zur Verfügung haben, bilden Sie natürlich kleinere Schritte, bis Sie bei prozentualen Nachkommastellen angekommen sind; am Ende liegt es an Ihnen bzw. am Projektrahmen, wie ausführlich Sie diesen morphologischen Kasten gestalten. Aber fürs Prinzip soll diese Darstellung genügen. Natürlich müssen sämtliche Annahmen noch mit Thesen und Belegen fundiert werden. An dieser Stelle werden oft Experteninterviews im Projektablauf ergänzt, um möglichst viele Projektionen zu identifizieren und ggf. auf unsinnige Ausprägungen zu verzichten.

Szenariokonstruktion und Konsistenzmatrix

Wie angekündigt sind formalisierte Szenarioprozesse auf Konsistenz aus, weniger auf Wahrscheinlichkeit. Konsistenz bezieht sich darauf, dass die Ausprägungen der Schlüsselfaktoren des vorherigen Schritts miteinander kombiniert und für jede mögliche Konstellation in einer Wechselwirkungsanalyse überprüft wird, ob unter gängigen Annahmen eine Koexistenz dieser beiden Ausprägungen möglich ist. Kann beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt deutlich wachsen, während die Bevölkerung erheblich schrumpft? Und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?

Die Konsistenzanalyse kann man kaum ohne Software kaum durchführen, immerhin haben wir es hier bei zehn ausgewählten Schlüsselfaktoren mit jeweils fünf Ausprägungen mit 2250 Kombinationsmöglichkeiten zu tun – je mehr Kombinationsmöglichkeiten, um komplexer wird dann auch die Berechnung der Rohszenarien. In meinem Anwendungsbeispiel zur US-Wahl 2020 haben sich durch 20 Schlüsselfaktoren mit durchschnittlich 3,27 Faktoren gar 85.030.560.000 Kombinationsmöglichkeiten ergeben. Das meine ich mit exponentiellem Wachstum des Aufwands.

Es gibt wenig gute Software für die Szenariotechnik. Im Masterstudium Zukunftsforschung haben wir mit Parmenides EIDOS gearbeitet, welches mir dankenswerterweise auch heute noch direkt von der Stiftung zur Verfügung gestellt wird. Mit dem Werkzeug ist noch viel mehr möglich als die Erstellung von Szenarien, unter anderem Strategiewerkzeuge wie Entscheidungsarchitekturen, visual scoremaps oder Datenkarten. Eine Software wie EIDOS kombiniert nun die Schlüsselfaktorprojektionen miteinander und berechnet den Konsistenzwert der Rohszenarien.

Rohszenarien bilden

Im Idealfall erhalten Sie infolge der softwaregestützten Kombination aller Projektionen mehrere (meist drei bis sechs) deutlich unterschiedliche Cluster mit einer Reihe von Szenarien. Aus jedem Cluster wählen Sie ein besonders konsistentes Rohszenario aus und bewerten nun im Team die Wahrscheinlichkeit und Relevanz für Ihr Untersuchungsobjekt. Je nach Zweck der Szenariotechnik geht es schließlich um die Aufarbeitung für die Kommunikation der Inhalte. Dies kann durch Geschichten, Grafiken, Videos oder andere geeignete Formate geschehen und sollte sich vor allem an den Erwartungen der Adressaten orientieren.

Wichtiger ist aber der strategische Mehrwert von Szenarien. Wenn Sie sauber gearbeitet haben, lassen sich nämlich anschließend sehr gut die Erkenntnisse in standardisierte Strategie-Frameworks einarbeiten.

Fazit (aktualisiert)

Szenarien eignen sich, wenn sie gut gemacht sind, sowohl für die Kommunikation als auch die Strategieentwicklung. In manchen Fällen kann mit ihrer Hilfe sogar das Geschäftsmodell auf externe, plausible Schocks überprüft werden. Seit 2022 arbeite ich mit meinem Zukunftsinstitut PROFORE für Kunden aus Wirtschaft und Verwaltung daran, konsistente Szenarien mit solidem und breitem Fundament zu erstellen. Interessiert Sie der Szenarioprozess? Schauen Sie gern mal vorbei.

Quellen

Gerhold, Lars et al. (2015): Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung. Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis. M. Pausch (Hrsg.), Springer Fachmedien, Salzburg, DOI 10.1007/978-3-658-07363-3.

Popp, Reinhold (2016): Zukunftswissenschaft & Zukunftsforschung. Grundlagen und Grundfragen. Eine Skizze. LIT Verlag, Wien.

Schulz-Monat, Beate; Steinmüller, Dr. Karlheinz (2013): Seminarskript „Szenariotechnik in der Unternehmenspraxis“, Freie Universität Berlin, Institut Futur.

Steinmüller, Dr. Karlheinz (1997): Grundlagen und Methoden der Zukunftsforschung. Szenarien, Delphi, Technikvorausschau. WerkstattBericht 21, Sekretariat für Zukunftsforschung, Gelsenkirchen.


Screenshot Eidos Kalkulation Szenarien

Szenariotechnik US-Wahl 2020

Szenariotechnik im praktischen Einsatz

Sie möchten gern erfahren, wie die Szenariotechnik operativ zum Einsatz kommt? Vielleicht haben Sie meinen Zlog-Beitrag über die US-Präsidentenwahlen gelesen und sind deshalb hier gelandet. Vielleicht interessieren Sie sich aber auch aus anderen Gründen für die Umsetzung einer der wichtigsten Methoden der wissenschaftlichen Zukunftsforschung. Ich möchte Sie nicht enttäuschen: Hier finden Sie einen recht detaillierten Einblick in die Vorgehensweise bei der Szenariotechnik.

Die Anwendung der Szenariotechnik kann, wenn man es ernst meint, unmöglich ohne Softwareunterstützung passieren. Dafür ist die Realität zu komplex – insbesondere, wenn wir uns im Bereich spekulativer Projektionen bewegen. Ich habe das große Glück, die Software EIDOS der Parmenides Foundation nutzen zu dürfen – an dieser Stelle bedanke ich mich nochmals ganz herzlich bei der Stiftung!

Grundannahmen

Folgende Grundannahmen wurden getroffen:

  • Joe Biden erhält etwas mehr Stimmen als Donald Trump vom Wahlmännerausschuss (< 10 % Differenz)
  • Joe Biden erhält erheblich mehr Stimmen durch Bevölkerung (> 60 %)
  • Anhänger beider Lager (Dem./Rep.) haben nachweislich lokale Wahlen manipuliert
  • China, Russland und Iran haben nachweislich Wahlen manipuliert

 

Einflussfaktoren

Funktionsweise Einflussfaktoren: Nach dem Umweltanalyseschema WÖ-gewarpt werden diejenigen Faktoren gelistet, die zum Zeitpunkt der Szenarien (Ende Januar 2021) eine Rolle gespielt und sich auf den betrachteten Gegenstand maßgeblich ausgewirkt haben werden. Weniger relevante Gebiete werden aus Effizienzgründen ignoriert und nicht aufgeführt. Insgesamt wurden 79 Einflussfaktoren aus den Bereichen Wirtschaft, Ökologie, Gesellschaft, Ethik, Wissenschaft, Administration, Recht, Politik und Technologie gelistet.

Hier finden Sie die gesamte Liste:

Wirtschaft

  • Wirtschaft
    • Außen (Welt):
      • Globale Konjunktur
      • Tourismuskrise
      • Finanzmärkte
      • Börsenkurse der Hauptindizes [Dow Jones Global Titans (50 größte Aktiengesellschaften der Welt), MSCI Emerging Markets Index (größte Aktiengesellschaften der Schwellenländer), MSCI World (1600 größte Aktiengesellschaften der Industrieländer), S&P Global 1200 (1200 größte Aktiengesellschaften der Welt), STOXX Global Select Dividend 100 (100 dividendenstärkste Großunternehmen der Welt)]
    • Außenpolitischer Rahmen:
      • Konjunktur NAFTA
      • Konjunktur US-Japan
      • Konjunktur US-UK (insb. Brexit)
      • World Trade Organization
    • Außen (Land):
      • Nationale Konjunktur
      • Nationale Arbeitslosenquote
      • Waren- und Güterverkehr
      • Energiemarkt
      • Immobilienmarkt
      • Ressourcenverfügbarkeit
      • Versorgungssicherheit US-Bevölkerung
      • Verhalten Social Media Plattformbetreiber (Facebook, Twitter, Insta)
    • Innen:
      • Insolvenz Big Player (G-MAFIA)

Ökologie

  • Ökologie
    • Außen (Welt):
      • Klimakatastrophe international
      • Wild Card Klima international
      • Wild Card Meteoriteneinschlag o.ä.
    • Außenpolitischer Rahmen:
      • Wild Card Klima Nordamerika
    • Außen (Land):
      • Wild Card Supervulkanausbruch
      • Waldbrände
    • Innen (White House):

Gesellschaft

  • Gesellschaft
    • Außen (Welt):
      • Covid19-Entwicklung (Gesundheitlich)
      • Globale Berichterstattung
      • Globale Prominente
    • Außenpolitischer Rahmen:
      • Immigration in die USA
      • Emigration aus den USA
    • Außen (Land):
      • Nationale Prominente
      • Nationale Berichterstattung
      • Migration innerhalb der USA
      • Akzeptanz Wahlergebnis US-Bevölkerung
      • Friedlicher Zusammenhalt US-Bevölkerung
      • Gewaltbereitschaft (Extremismus, Bürgermilizen, Bürgerkrieg, Plünderungen etc.)
      • Sozialversicherungssystem
      • Polarisierung zwischen Wählergruppen
      • Alternative Fakten / New World Order Verschwörungstheorien
      • Wild Card Terrorismus
      • Wild Card Unglück (Flugzeugabsturz, Dammbruch, GAU)
    • Innen (White House):
      • Verhalten Melania Trump
      • Verhalten andere Familienmitglieder Trump

Ethik

  • Ethik
    • Außen (Welt):
    • Außenpolitischer Rahmen:
    • Außen (Land):
      • Demokratieempfinden US-Bevölkerung vs. Faschismus
      • Egoismus US-Bevölkerung
    • Innen (White House):
      • Friedliche Übergabe ja/nein

Wissenschaft

  • Wissenschaft
    • Außen (Welt):
      • Wild Card wiss. Durchbruch international
    • Außenpolitischer Rahmen:
    • Außen (Land):
      • Wild Card wiss. Durchbruch USA
    • Innen (White House):

Administration

  • Administration
    • Außen (Welt):
    • Außenpolitischer Rahmen:
    • Außen (Land):
      • Verhalten US-Bundesbehörden
    • Innen (White House):
      • Verhalten Trump-Administration

Recht

  • Recht
    • Außen (Welt):
    • Außenpolitischer Rahmen:
      • Verhalten Supreme Court (Judikative, 9 Richter, Präsident schlägt vor, Senat wählt)
    • Außen (Land):
      • Verhalten Gerichte in Bundesstaaten
    • Innen (White House):

Politik

  • Politik
    • Außen (Welt):
      • Einfluss Russland
      • Einfluss China
      • Einfluss Iran
      • Einfluss EU
      • Internationale Anerkennung Wahlergebnis
      • Militärische Konflikte international
      • Wild Card Atomwaffeneinsatz
    • Außenpolitischer Rahmen:
      • Verhalten NATO
      • Verhalten Vereinte Nationen
      • Verhalten OECD
    • Außen (Land):
      • Verhalten Kongress [= Repräsentantenhaus (Legislative, quasi Bundestag mit Proporz pro Staat, 435 Mitglieder aktuell) und Senat (Legislative, quasi Bundesrat, jeder Bundesstaat 2 Sitze, Vizepräsident ist Senatschef)]
      • Verhalten einzelner Bundesstaaten / Gouverneure (Exekutive Außen)
      • Verhalten Streitkräfte (Exekutive Außen)
      • Verhalten einzelner Bundesstaaten / Staatsparlamente (Legislative Außen)
      • Verhalten Staatsparlamente (Legislative Außen)
      • Parteiverhalten Demokraten
      • Parteiverhalten Republikaner
      • Parteiverhalten andere
      • Militärische Konflikte national
    • Innen (White House):
      • Verhalten Präsident Trump
      • Wild Card Anschlag auf Trump
      • Verhalten Vizepräsident Pence
      • Verhalten Kabinettsmitglieder
      • Verhalten Bundesbehörden (Fokus: CIA, Federal Reserve Bank)

Technologie

  • Technologie
    • Außen (Welt):
      • Technologischer Durchbruch Covid-Impfstoff (global)
      • Quantencomputer global
      • Wild Card globaler Internetausfall
    • Außenpolitischer Rahmen:
    • Außen (Land):
      • Technologischer Durchbruch Covid-Impfstoff (USA)
      • Wild Card nationaler Internetausfall
    • Innen (White House):

Schlüsselfaktoren

Im nächsten Schritt wurden Schlüsselfaktoren definiert. Das sind diejenigen Faktoren, die nach Recherche, Diskussionen und Einfluss-/Wechselwirkungsmatrix als die relevantesten identifiziert wurden. Insgesamt wurden nach Abzug der Wild Cards 20 Schlüsselfaktoren in die Analyse einbezogen. Sie sind oben fett markiert, hier noch einmal als Liste und leicht umformuliert:

  • Börsenkurse Hauptindizes
  • Nationale Konjunktur
  • Energiemarkt
  • Versorgungssicherheit
  • Verhalten Plattformbetreiber Social Media
  • Covid-19 / Sars-CoV-2
  • Emigration aus den USA
  • Akzeptanz Wahlergebnis
  • Gewaltbereitschaft
  • Verhalten Melania Trump
  • Verhalten Supreme Court
  • Einfluss Russland
  • Einfluss China
  • Einfluss Iran
  • Einfluss EU
  • Einfluss Vereinte Nationen
  • Verhalten Kongress
  • Verhalten Bundesstaaten
  • Verhalten Streitkräfte
  • Verhalten Donald Trump
  • Verhalten Bundesbehörden (v.a. CIA und Fed)
  • Covid-19-Impfstoff

 

Für die Schlüsselfaktoren wiederum wurden so gut es geht nach dem MECE-Prinzip (mutually exclusive, collectively exhaustive) Ausprägungen bzw. Projektionen gebildet. Dazu muss erwähnt werden, dass einige qualitative Faktoren aus forschungseffizienten Gründen lediglich wenige dichotome Alternativen enthält, wie beispielsweise das Verhalten Melania Trumps.

Insgesamt wurden 72 Ausprägungen alternative Projektionen gebildet, was einem Durchschnitt von 3,27 Projektionen entspricht. Jeder Schlüsselfaktor und jede Ausprägung wurde zudem mit geschätzten Wahrscheinlichkeiten und der Gewichtung für die Szenarioanalyse bestückt. Dieser Schritt ist übrigens unter Zukunftsforschenden umstritten, ich habe mich aus Zeitgründen dafür entschieden, auch wenn meine Bewertungsgrundlagen nur schwer nachvollziehbar gemacht werden können und ich damit möglicherweise die Gütekriterien der Forschung etwas strapaziere. Bei Rückfragen zu den einzelnen Wahrscheinlichkeiten und Gewichtungen stehe ich gern Rede und Antwort, da die zugrundeliegenden Thesen durchaus dokumentierbar sind.

Screenshot Eidos Kalkulation SzenarienAnschließend wurden für jedes Ausprägungspaar Konsistenzwerte vergeben – wie widerspruchsfrei ist die Koexistenz dieser beiden Ausprägungen im Szenario am Tax x, hier dem 20. Januar 2021? Eine solche Betrachtung ist unmöglich manuell durchzuführen, weshalb ich hierfür die Software Parmenides Eidos genutzt habe. Herzlichen Dank für die Bereitstellung der Software, liebe Parmenides Foundation!

Rohszenarien

Screenshot Eidos Szenarien ClusterDamit ergaben sich für die Kombination aller Ausprägungen 85.030.560.000 Möglichkeiten. Die Berechnung dauerte mit meinem HP Elitebook 840 G6 (Intel i7 @ 1,8 GHz mit 32 GB Arbeitsspeicher) 2:45 Stunden. Im Ergebnis lieferte die Analyse 97 Rohszenarien. Diese waren in sechs unterschiedliche Cluster unterteilt, welche sich wiederum aus den grundlegenden Unterschieden in den Konsistenzwerten, Wahrscheinlichkeiten und inhaltlichen Unterschieden ergaben. Nach der Durchsicht der einzelnen Werte und manueller, qualitativer Überprüfung der Stimmigkeit und Relevanz wurden schließlich zunächst die 97 Rohszenarien auf je ein Rohszenario pro Cluster reduziert, um schließlich ein finales Szenario auszuwählen: es trägt die Ordnungsnummer 70, hat einen Konsistenzwert von 1.44 und eine Wahrscheinlichkeitsbewertung von +++.

 

Dieses Rohszenario 70 hat folgende Werte:

Screenshot Szenario 70 US-Wahl

Hier sind die Schlüsselfaktoren mit den errechneten konsistenten Ausprägungen zum Zeitpunkt 20. Januar 2021. An dieser Stelle nochmals der Hinweis, dass dies keine Prognose, sondern eins von vielen in sich konsistenten, d. h. widerspruchsfreien Szenarien ist:

  • Weltwirtschaft: Börsenkurse der Hauptindizes steigen deutlich > 5%
  • US-Wirtschaft
    • Nationale Konjunktur wächst deutlich > 5%
    • Energiemarkt: Preise / Verfügbarkeit konstant
    • Versorgungssicherheit: Überfluss
    • Verhalten der Plattformbetreiber Social Media: Unterstützung System
  • Weltgesellschaft: Covid-19 / Sars-CoV-2 entwickelt sich moderat mit 1,5 – 2 Millionen Toten weltweit
  • US-Gesellschaft
    • Emigration aus den USA sinkt deutlich > 3%
    • Akzeptanz Wahlergebnis in Bevölkerung erhält starke Unterstützung
    • Gewaltbereitschaft bleibt moderat
    • Verhalten Melania Trump läuft auf einen offenen Konflikt mit Donald Trump hinaus
  • Rechtssystem: Verhalten Supreme Court, dieser bestätigt das Wahlergebnis
  • Weltpolitik
    • Einfluss Russland: keine Einmischung
    • Einfluss China: moderate Einmischung
    • Einfluss Iran: moderate Einmischung
    • Einfluss EU: keine Einmischung
    • Einfluss Vereinte Nationen: keine Einmischung
  • US-Politik
    • Verhalten Kongress: Repräsentantenhaus und Senat unterstützen die Wahlergebnisse
    • Verhalten Bundesstaaten: Mehrheit unterstützt Wahlergebnisse
    • Verhalten Streitkräfte: friedliche Unterstützung des Systems
    • Verhalten Donald Trump: Akzeptanz des Wahlergebnisses
    • Verhalten Bundesbehörden (insb. CIA, FBI und Federal Reserve): Mehrheit unterstützt das Wahlergebnis
  • Technologie: Ein Covid-19-Impfstoff wird in den USA entwickelt.

Szenarioaufbereitung

Nachdem ich mich für dieses Szenario entschieden habe, ging es ans Schreiben des Szenariotextes. Ich habe mich für die Form eines Zeitungsberichts entschieden, um möglichst schlaglichtartig die wichtigsten erwarteten Entwicklungen im Dialogformat umzusetzen. Das Ergebnis finden Sie in meinem Zlog – oder haben es sogar schon gefunden.

So oder so ähnlich kann es also ablaufen, wenn Zukunftsforschende tief in ihren Methodenkoffer greifen. Idealerweise ist die Szenariotechnik nur einer von mehreren Bausteinen eines Forschungsprojekts. Für die Vorbereitung ist eine ausführliche Recherche unerlässlich, am besten werden noch (Experten-)Interviews für die Erweiterung des Thesensatzes und die Beseitigung blinder Flecken geführt. Je nach Untersuchungsgegenstand bieten sich manchmal auch quantitative Erhebungen an.

Sprechen Sie mich gern für die Beratung der passenden Methode an. Gern unterstütze ich Sie bei Ihrem Foresight-Prozess im Prozess, Strategie oder in der Operativen.


Sonderband Zukunft der Arbeit Cover

Zukunft der Arbeit: Sonderband und Postkapitalismus

Gestern war es endlich soweit: Der Sonderband "Zukunft der Arbeit" von Prof. Dr. Jens Nachtwei und Antonia Sureth wurde veröffentlicht! 122 Fachartikel von 181 Autor*innen - das Themenspektrum reicht von (alternativen) Arbeitswelten über Bildung und Personalwesen, Organisation & Kollaboration und Führung zu technologischen Themen wie Künstlicher Intelligenz im Arbeitskontext. Natürlich gibt es auch Praxisbeispiele. Und das beste: der Band ist kostenlos verfügbar!

Achso, und: ich habe auch einen Beitrag geleistet: "Postkapitalismus: Systemfragen der 4. Industriellen Revolution" (S. 54-57). Hier geht's direkt zur Publikation:

www.SonderbandZukunftDerArbeit.de

Für Zitation bitte folgende Form verwenden: 

  • Nachtwei, J., & Sureth, A. (Hrsg.). (2020). Sonderband Zukunft der Arbeit (HR Consulting Review, Bd. 12). VQP.
    https://www.sonderbandzukunftderarbeit.de
  • Gondlach, K. A. (2020). Postkapitalismus: Systemfragen der 4. Industriellen Revolution. In J. Nachtwei & A. Sureth (Hrsg.), Sonderband Zukunft der Arbeit (HR Consulting Review, Bd. 12, S. 00-00). VQP. https://www.sonderbandzukunftderarbeit.de

Veröffentlichungsreihe
Die Veröffentlichungsreihe für Qualitätssicherung in Personalauswahl und -entwicklung (VQP) wurde 2012 zur Förderung des Austauschs von Forschung, Lehre und Praxis begleitend zur Vorlesung Personal- und Organisationsberatung von Jens Nachtwei am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin ins Leben gerufen.

HR Consulting Review
Im Herausgeberband HR Consulting Review der Veröffentlichungsreihe stellen Praktiker*innen und Forscher*innen Projekte, Modelle und Sichtweisen sowie wissenschaftliche Studien vor. Die Themen stammen vorwiegend aus den Bereichen Führung, Personalauswahl, Personalentwicklung und Organisationsentwicklung.

Freier Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen bedeutet nicht, dass sie umsonst sind. Die Organisator*innen und Autor*innen haben überwiegend ehrenamtlich viel Zeit und Mühe in die Erstellung dieses Bands gesteckt. Bitte quittieren Sie diesen Dienst durch Verbreitung der Publikation, kritische Auseinandersetzung und proaktive Diskussion oder finanzielle Unterstützung der jeweiligen Institutionen. Danke!


Szenario: Joe Biden als neuer US-Präsident vereidigt, Trump in Isolationstherapie

Berlin, 20. Januar 2021

Nun also doch: Joe Biden hat heute vor dem Obersten Gerichtshof in Washington, D. C. den Amtseid abgelegt und folgt damit als 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika auf Donald Trump. Dieser ist den Feierlichkeiten wie erwartet ferngeblieben, da er sich auf Anordnung seines scheidenden Amtsarztes in Isolation und damit in sein eigenes Trump International Hotel begeben hat, wo er von einem Psychotherapeutenteam betreut wird. Er erlitt zum Jahreswechsel einen Nervenzusammenbruch infolge der öffentlichkeitswirksamen Trennung von seiner Frau Melania Trump. Infolgedessen beendete er seinen Widerstand gegen die amtlichen Wahlergebnisse von Anfang November und leitete damit die Beruhigung der bürgerkriegsähnlichen Zustände in weiten Teilen des Landes ein.

Mit der Vereidigung des neuen US-Präsidenten Joe Biden beginnt ein neues politisches Weltzeitalter. Biden steht vor einem nationalen Trümmerhaufen und polarisierten politischen Lagern, doch die Sicherheitssituation scheint im Griff zu sein. Die ganze Welt schaut nun auf den Hoffnungsträger einer ganzen Generation, der vor beispiellosen Herausforderungen steht. Darüber sprachen wir exklusiv mit Bundesaußenminister Heiko Maas.

Herr Maas, wie bewerten Sie die aktuelle Lage in den USA?

Zunächst einmal möchte ich betonen, dass wir angesichts der wiederhergestellten Ordnung im Kabinett aufgeatmet haben. Hinter uns liegen insbesondere im Auswärtigen Amt und den diplomatischen Einrichtungen arbeitsreiche Wochen, die oft einer Gratwanderung glichen. Als Deutsche und Bündnispartner der USA standen wir natürlich zwischen den Stühlen, die Faktenlage der Wahlergebnisse musste besonders in den ersten Tagen nach dem finalen Wahltag ständig neu bewertet werden. Donald Trump und seine scheidende Administration waren dabei keine große Hilfe. Natürlich ist es nicht unsere Aufgabe, Partei für einen der Kandidaten zu ergreifen, doch als dann im Eilverfahren der nationale Notstand ausgerufen und das Militär in fast allen Bundesstaaten eingesetzt wurde, um friedliche Proteste der Bürger*innen gewaltsam zu beenden, konnten wir nicht weiter tatenlos zusehen. Glücklicherweise teilte die Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft unsere Einschätzung.

Was dachten Sie, als sich dann Teile des Militärs den Befehlen ihres scheidenden Oberbefehlshabers Trump widersetzten?

Offen gesprochen haben wir bei einer der vielen Krisensitzungen kollektiv den Atem angehalten. Alle Zeichen standen auf Eskalation, solche Bilder kennen wir sonst nur aus Krisengebieten. Unsere besten Analysten waren sich einig, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Bürgerkrieg immens war, sodass wir uns gezwungen sahen, einzuschreiten. Immerhin fürchteten die Wahlbeobachter der OSZE und OAS, die unüblicherweise im November die Situation vor Ort im Blick hatten, um ihre Leben. Das Pulverfass aus nationalen Streitkräften, Dissidenten, Bürgermilizen und terroristischer Vereinigungen von außen drohte zu explodieren. Es stand vieles auf dem Spiel, auch für den Rest der internationalen Staatengemeinschaft.

Wie haben Sie Trump und seine Allianz schließlich zum Einlenken bewegen können?

Im Grunde haben wir dafür die klassischen Taktiken einer Verhandlung in Krisensituationen wie zum Beispiel Geiselnahmen angewandt. Unsere Spezialeinheiten sind darauf geschult, mit Gefährdern zu verhandeln und auch unter größtem Stress ihr Ziel zu verfolgen, nämlich die Gesamtsituation möglichst friedlich beizulegen. Immerhin ging es hier um den Weltfrieden, nachdem Trump auf Twitter sogar den Einsatz von Atomwaffen im eigenen Land als Option gegen Protestierende und abtrünnige Metropolregionen angesprochen hat. Es ging also potentiell um die Leben vieler Millionen Menschen und die geopolitische Sicherheitslage. Für uns war klar, dass nur ein Ultimatum und immenser diplomatischer Druck helfen würde. Dazu gehörten auch umfangreiche wirtschaftliche Sanktionen gegen Trump persönlich.

Kein einfacher Job! Sie haben Twitter bereits angesprochen, der Social Media Dienst diente Donald Trump in seiner gesamten Amtszeit als wichtige Resonanzkammer für seine oft eher unpräsidialen Äußerungen. Was denken Sie über die Entwicklungen der Sozialen Netzwerke innerhalb der letzten Monate und ihre Rolle in der Beilegung der Konflikte?

Der Nachrichtendienst Twitter wurde in der Vergangenheit ja gern von Gruppierungen mit extremen Meinungen genutzt, doch bereits vor der Präsidentschaftswahl wurden immer mehr Hürden eingebaut, um die Verbreitung von alternativen Fakten zu erschweren. Facebook als immer noch nutzerstärkste Plattform musste sich ebenfalls dem öffentlichen Druck beugen und deutlich schärfer als bisher gegen Verschwörungstheoretiker vorgehen. Mit Beginn des neuen Jahres nutzen nun sämtliche größere Plattformen KI-gestützte Software, um derartige Äußerungen kenntlich zu machen und Nutzer*innen vor gefährlichen Inhalten zu warnen – sicherlich nicht freiwillig, sondern weil sie es schlicht müssen. Immerhin hat inzwischen ein stets wachsender Teil der Menschen erkannt, dass auch die Covid19-Pandemie real ist und Trump viele Menschenleben wissentlich in Gefahr gebracht hat, um seine politischen und vor allem wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Dieses Einlenken hat die Konjunktur sowohl in den USA als auch weltweit wieder deutlich angekurbelt, da mit vereinten Kräften viel wirksamere Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie einerseits und zur geregelten Verfolgung des öffentlichen Lebens andererseits ergriffen werden konnten. Nur so konnte sich die Verbreitung des Virus moderat entwickeln – Ende November sah das noch ganz anders aus.

Welche weiteren Auswirkungen erwarten Sie durch die einkehrende Ruhe?

An erster Stelle muss ich Joe Biden meinen größten Respekt aussprechen. Er und seine Administration sind mit allen Entwicklungen der letzten Monate besonnen umgegangen, was man von dem scheidenden Präsidenten nicht gerade behaupten kann. Sie haben alle Mittel des Rechtsstaats genutzt, haben sich nicht durch die polemischen Angriffe einschüchtern lassen und sind würdevoll durch diese Schlammschlacht gekommen. Nun ist es jedoch an der Zeit, nach vorn zu blicken. Biden und sein Kabinett müssen die politischen Grabenkämpfe im Repräsentantenhaus und dem Senat moderieren und gleichzeitig wichtige und dringende Herausforderungen angehen.

Die allgemeine Gesundheitssituation in den Vereinigten Staaten von Amerika ist desolat, die Pandemie hat hier tiefe Gräben verursacht – im direkten wie im übertragenen Sinne. Die Chancen stehen gut, dass eine verbindliche, solidarische Krankenversicherung nach europäischem Vorbild nun endlich auf den Weg gebracht werden kann. In diesem Zuge werden auch wirtschaftliche Sicherungs- und Anreizsysteme insbesondere für die geschwächte Zivilbevölkerung diskutiert.

Innenpolitisch wird nach wiederholter Kritik am Wahl- und Parteiensystem mit den Stimmen beider großer Parteien eine Wahlrechtsreform angestrebt, die in der Tat beispiellos wäre. Worüber noch gestritten wird, ist die Aufspaltung der föderalen USA in mehrere souveräne Staaten, die der kulturellen und politischen Spaltung Rechnung tragen würde. Gleichzeitig erhofft man sich davon wirtschaftliche Zugewinne bei gleichzeitigem Effizienzgewinn hinsichtlich der Geschwindigkeit im Entscheidungsfindungsprozess.

Der deutliche Rückgang der Emigration aus den USA scheint ein erster Indikator dafür zu sein, dass sich die US-Bürger*innen wieder sicherer und wohler fühlen als in den vergangenen vier Jahren. Joe Biden ist als Hoffnungsträger schon fast vergleichbar mit seinem ehemaligen Chef Barack Obama. Auf seinen Schultern lasten die Erwartungen einer gespaltenen Nation.

Als Vizepräsident hat Biden bereits unter Barack Obama in beiden Amtszeiten insbesondere für die außenpolitischen Fragen brilliert. Was denken Sie, welche außenpolitischen Themen ganz oben auf Bidens Agenda stehen?

Für die traditionellen Antrittsbesuche bei anderen Staats- und Regierungschefs ist aktuell weder Zeit noch Platz auf der Prioritätenliste. Natürlich finden kurze Telefonate und Videokonferenzen statt, doch es brennt international an zu vielen Stellen, als dass man sich in aller Seelenruhe mit repräsentativen und formellen Gesten aufhalten könnte. Zuerst wird sich Biden um die diplomatischen Krisen mit Russland, China und dem Iran kümmern müssen. Alle drei haben nachweislich die Wahl in den USA manipuliert, Daten von US-Bürger*innen gestohlen und somit eine souveräne Nation in ihren Grundrechten verletzt. Leider fehlen uns noch die juristischen Mittel, um auf globaler Ebene dagegen vorzugehen, aber das Instrumentarium der Diplomatie reicht fürs Erste. Biden hat bereits angedeutet, dass er – anders als sein Vorgänger – weniger den Konflikt als die Kooperation anstrebt.

Welche Themen geht Biden Ihrer Meinung nach im Anschluss an? Was macht er anders als Trump?

Es gibt eine Reihe globaler Fragen, die größer als Eitelkeiten sind. Die Auswirkungen des Klimawandels sind inzwischen auch in den Industrienationen regelmäßig spürbar, die kontinuierlichen Meldungen über Methangaslecks in Sibirien, Erdbeben und Waldbrände auf allen Kontinenten und der rapide Anstieg des Meeresspiegels können wir nur gemeinsam angehen. Deshalb freut es uns in der Bundesregierung zu sehen, dass Joe Biden nicht nur den Wiedereintritt ins Pariser Klimaabkommen forciert, sondern sogar eine Verschärfung und die Einführung verbindlicher Vorschriften vorgeschlagen hat. Unsere größten Feinde in diesen Zeiten sind keine anderen Nationen, sondern Viren und - mit Blick auf den Klimawandel – die Fehlentscheidungen vergangener Generationen. Diese können wir nur gemeinsam korrigieren.

Das sind viele wichtige Aufgaben für einen neuen Präsidenten. Was wünschen Sie sich und Joe Biden für die ersten 100 Tage, auch mit Blick auf das bevorstehende Ende der Ära Merkel?

Die 100-Tage-Frist wird traditionell jedem neuen Präsidenten gewährt, um von Medien und Opposition eine erste Bewertung zu erhalten. Ich würde in diesem Fall auf 118 Tage erhöhen, denn dann beginnt das Weltwirtschaftsforum in Luzern. Die Staats- und Regierungschefs sowie Unternehmens- und NGO-Vertreter*innen erwarten gespannt den Moment, in dem der mächtigste Mann der Welt erstmals von den Fortschritten seiner Regierung berichten wird. Ich hoffe für uns alle, dass sich die Vorboten für gute Nachrichten bestätigen werden. Dazu gehört eine rasche Verbreitung des US-Impfstoffs gegen Covid-19 in alle Teile der Welt, Fortschritte in der friedlichen Beilegung der genannten Krisen und Konflikte und schließlich eine Beteiligung an dem globalen Green New Deal und der Umschulungsrevolution.

Angela Merkel und ihr Kabinett stehen geschlossen hinter Joe Biden. Wir freuen uns auf eine produktive, partnerschaftliche und gedeihliche Zusammenarbeit. Im Vordergrund der transatlantischen Beziehung stehen nun die Aufräumarbeiten kürzlicher geopolitischer und diplomatischer Krisen sowie die Weichenstellung für die Zukunft.

Herr Maas, wir bedanken uns für das Gespräch!

DISCLAIMER

Sie lasen ein fiktives Szenario über den Zeitraum nach der US-Präsidentenwahl nach dem 3. November 2020 bis zum 20. Januar 2021. Es wurde im Oktober 2020, also noch vor dem finalen Wahltag, mithilfe der Szenariotechnik der wissenschaftlichen Zukunftsforschung erstellt und in den Tagen vor der tatsächlichen Wahl verfasst. Es handelt sich nicht um eine reale Abhandlung, sondern um ein frei erfundenes Szenario als fiktives Interview, das allerdings auf einer ausführlichen qualitativen und quantitativen Recherche sowie Anwendung der Software Parmenides EIDOS basiert. Mehr über die Funktionsweise der Methode erfahren Sie hier.

Auszug der Quellen

  • BuzzFeed News: These Are The Nightmare Scenarios For How The 2020 Election Might End, 13.10.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Eudaimonia; Umair Haque: America is a Dystopia America’s Weekend of Chaos, Rage, and Despair, 30.05.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Eudaimonia; Umair Haque: This Election Isn’t Just About Trump. It’s About Whether America Has a Future, 15.10.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Eudaimonia; Umair Haque: Are These the Last 14 Days of American Democracy? A Desperate Trump Seems to Be Embracing Political Violence. Can America Defeat Him?, 19.10.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Merkur: Experten erklären Alptraum-Szenario für US-Wahl - Trump könnte Kettenreaktion in Gang setzen, 20.10.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Tagesspiegel: Milizen in den USA: Sie proben für den Bürgerkrieg, 09.10.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Wikipedia: 12. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, URL (Zugriff am 20.10.2020).

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Buchtipp: Factfulness (Hans Rosling)

"Factfulness - wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist." Ein viel versprechender Titel! Und eine unheimlich wichtige Mission in Zeiten alternativer Fakten, Fake News und Verschwörungsmythen. Kann das Buch halten, was der Titel verspricht?

Was steht drin?

Zur Person: Der schwedische Mediziner und Statistiker Hans Rosling war Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Institutet und Direktor der Gapminder-Stiftung in Stockholm. Durch eine Reihe von TED-Talks erreichte er mehr und mehr den weltweiten Bekanntheitsgrad eines Wissenschafts-Popstars, sein Lebenswerk "Factfulness" trägt all diese Entwicklungen zusammen und verfolgt das Ziel, Menschen wieder zum Nachdenken zu ermuntern.

Afrika ist arm, die Industriestaaten sind reich, die Weltbevölkerung explodiert und bald gibt es nicht mehr genug zu Essen für alle.

Das sind nur einige der Vorurteile, die Hans Rosling adressiert und charmant mit Anekdoten widerlegt. Das Buch basiert auf biographischen Erzählungen des Autors, die immer wieder durch internationale Statistiken untermauert werden. Diese sammelte Rosling unter anderem mit der Gapminder Stiftung, die er 2005 mit seinem Sohn Ola Rosling und Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund gegründet hat. Dutzende Male hat Rosling mich als Leser bei meinen Vorurteilen bzw. eingefahrenen Annahmen über Zusammenhänge in der Welt erwischt. Gleichzeitig hat er mir auch immer wieder das beklemmende Gefühl der eigenen Dummheit genommen, indem er Umfrageergebnisse teilt. Sie zeigen, dass die wenigsten Menschen in Industriestaaten beispielsweise die Entwicklung der Armut oder Zugang zu Bildung und Medizin in "Entwicklungsländern" korrekt eingeschätzt haben. Manchmal liegen sogar Nobelpreisträger weiter daneben als der Median der Bevölkerung - selbst Schimpansen tippen oft besser als die subjektiv geprägten Genies.

Und so lernen wir bei der Lektüre unter anderem, dass ...

  • ... das Bruttoinlandsprodukt der "Entwicklungsländer" erheblich gestiegen ist.
  • ... in den Metropolen der "Industriestaaten" ärmere Menschen leben als in vielen afrikanischen Ländern.
  • ... die Weltbevölkerung nur noch bis ca. Mitte des Jahrhunderts anwachsen wird.
  • ... nicht die Menge vorhandenener Nahrung das Problem ist, sondern der Wille, sie gerecht aufzuteilen.

Statt antiquierter Bezeichnungen für Staaten wie Erste vs. Dritte Welt hat Rosling ein Stufenmodell entwickelt, das den individuellen Lebensstandard widergibt. Dazu gehört auch die These, dass man umso weniger Veränderungen auf den unteren Entwicklungsebenen wahrnimmt, je weiter man aufgestiegen ist. Die bekannte Arroganz des "Westens" also. Dabei bleibt Rosling für meinen Geschmack stets undogmatisch und respektvoll, legt den Finger jedoch spürbar in die Wunden der Ex-Kolonialmächte.

Das Buch folgt im Aufbau verschiedenen Instinkten der Menschen, welche in der vernetzten und medial verzerrten Welt oft auf die falsche Fährte geraten. Schuld daran ist unter anderem unser Drama-Filter, welcher (evolutiv bedingt) die Gesamheit der Informationen, die in jedem Moment auf uns einprasseln, dahingehend prüft, ob sie eine Bedrohung für uns darstellen können. Dieser Filter ist es, der sich von der Berichterstattung vieler Leitmedien in die Irre führen lässt und permanent Stresssignale produziert. Rosling plädiert dafür, den Vorhang zu lüften und sich von dieser sehr einfachen Herangehensweise an Realität zu lösen. Darüber hinaus sollte man sich weniger an den klassischen Charakterzügen des Optimismus, Pessimismus oder Realismus orientieren, sondern eher zum Probabilisten werden. Als Probabilist*in lebt es sich leichter, da man lernt, Zusammenhänge herzustellen, mutmaßliche Fakten zu hinterfragen und ausgewogene Entscheidungen zu treffen. Kann ich nur empfehlen.

Meta

Die erste Auflage in deutscher Sprache erschien posthum 2019; Hans Rosling verstarb leider 2017. Sein Sohn Ola Rosling und Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund vollendeten das Werk. Die beiden sind auch die Köpfe hinter der Gapminder Foundation und der dazugehörigen "Trendanalyzer"-Software. Diese wurde bereits zwei Jahre später von Google gekauft und visualisiert seither auf noch größerer Ebene Informationen, die aus verlässlichen Quellen und Statistiken stammen.

Der Mensch ist durch seine Biologie stark eingeschränkt, wenn er nicht seine Gabe, den kognitiven Supercomputer im Schädel, vernünftig nutzt. Factfulness ist eine erfrischende Herangehensweise an Behauptungen in den Medien - insbesondere Social Media -, die dabei helfen kann, weniger leichtgläubig und gleichzeitig weniger angreifbar zu sein. Wenn man sich die Facebook-Kommentare zu bestimmten Medienmeldungen anschaut (insbesondere seit Corona), kann einem schon übel werden; wenn man diese Entgleisungen einiger weniger kognitiv Gesegneter ins Verhältnis dazu setzt, wie viele Menschen sich für ein friedliches Miteinander engagieren, wird's besser. Versprochen.

Trivia: Ich höre sehr selten Hörbücher. Factfulness habe ich mir tatsächlich als Hörbuch gegönnt und dann das Taschenbuch bestellt.

Empfehlung: Unbedingt lesen!

Die Chancen stehen nicht schlecht, dass Sie das Buch ohnehin schon gelesen haben. Nicht ohne Grund war es wochenlang auf diversen internationalen Bestseller-Listen. Auf Spotify gibt's das Hörbuch quasi umsonst. Falls Sie es noch nicht gelesen oder gehört haben, möchte ich es Ihnen unbedingt nahelegen. Und Ihrer Familie. Und Ihren Kolleg*innen oder Angestellten und jedem, dem Sie sonst so begegnen. Wenn Sie das erledigt haben, schreiben Sie mir gern hier einen Kommentar oder eine eMail oder rufen Sie an.


Buchtipp: "Alles unter dem Himmel" (Zhao Tingyang)

Wenig überraschend: Als Zukunftsforscher lese ich unheimlich viel. Dazu gehören vor allem die neuesten Studien einschlägiger Forschungsinstitute und einflussreicher Organisationen, wie bspw. von Bundesministerien. Ansonsten lese ich vor allem Sachbücher, die mich wiederum oft auf neue Gedanken bringen, mir neue Perspektiven bieten und vor allem auf Primärliteratur aufmerksam machen, die sonst nicht in meiner Reichweite wäre. Deshalb bin ich auch immer sehr dankbar für Tipps, die nicht aus meinen Fokusgebieten der Soziologie, klassischen Politikwissenschaft und Innovationsforschung stammen. Und deshalb habe ich beschlossen, meinen Zlog auch für Buchtipps zu nutzen – schließlich ist es meine Mission, auch Ihre Perspektiven zu weiten.


Neulich habe ich ein Buch gelesen, welches mein Perspektivendenken sehr herausgefordert hat, da es sich um das Werk eines philosophischen Politikwissenschaftlers handelt. Zhao Tingyang ist einer der wenigen Politikwissenschaftler aus China, die gleichzeitig dort wie auch weltweit angesehen sind.

„Zhao Tingyang ist Professor am Institut für Philosophie bei der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und ist Senior Fellow am Berggruen Forschungsinstitut der Universität Peking. 2019 wurde er vom Nouveau Magazine littéraire zu einem der 35 einflussreichsten Denker der Welt gewählt.“ (Wikipedia)

Sein Buch „Alles unter dem Himmel“ erschien 2020 in deutscher Sprache und ich möchte es allen nahelegen, die sich für „Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“ interessieren, wie es im Untertitel heißt. Und wenn Sie hier auf meinem Zlog unterwegs sind, ist anzunehmen, dass Sie sich für diese Thematik interessieren 😉

Was steht drin?

Zhao Tingyang geht in seinem Hauptwerk mit allen bisherigen Formen politischer Ordnung streng ins Gericht. Alle Herrschaftssysteme der Vergangenheit seien zwar historisch nachvollziehbar und durchaus praktikabel gewesen, doch das habe sich im 21. Jahrhundert geändert. Wir stehen vor Problemen, die einerseits weltweite wechselseitige Verstärkungseffekte entfalten und andererseits zum Teil gerade infolge der Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme der Neuzeit entstanden sind.

Zhao kritisiert also alle historischen Ordnungssysteme. Alle bis auf eines: die sogenannte Tianxia (übersetzt „alles unter dem Himmel“). Sie entstand im historischen China infolge mehrerer Zufälle und bot eine herausragend inklusive und kollaborative Staatsordnung in der Zeit etwa zwischen 1100 und 200 v. Chr. und wird dem Herzog Dan von Zhou im 11. Jahrhundert v. Chr. zugeschrieben. Die Tianxia hielt damit erheblich länger an als die aktuellen modernen westlichen Staaten, deren Gründung überwiegend weniger als 500 (oder im Fall der BRD weniger als einhundert) Jahre zurückliegt.

„Das Tianxia-System der Zhou-Dynastie eröffnete die gedankliche Möglichkeit einer Politik, welche die Welt als Ganzheit zum Ausgangspunkt nimmt“, (Zhao, S. 51).

Das Besondere an der Tianxia: Wenn man von einigen Bestrebungen der Vereinten Nationen absieht, hat sie erstmals und bis heute beispiellos alle Menschen der Welt unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Status gleichgesetzt. Und das Ganze 2500 Jahre vor Aufklärung und Humanismus in Europa. Deren Vordenker und Macchiavelli, Rousseau, Montesquieu, Hobbes, Kant etc. allesamt ziemlich limitierte Ansichten und Menschenbilder vertraten. Interessanterweise scheiterte die Tianxia zu einer Zeit, als vermehrt politische Verbindungen zu entfernten Weltregionen aufgenommen wurden (Han-Dynastie 206 v. Chr. – 220 n. Chr.). Viele Positionen der Tianxia waren ihrer Zeit weit voraus, über die tatsächliche Ausübung wiederum ist leider nicht allzu viel überliefert, aber das macht die Idee an sich ja nicht schlecht.

Meta

Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise in die chinesische Geschichte, die meiner Meinung nach in unseren Breitengraden deutlich unterrepräsentiert rezipiert wird. Immerhin ist die VR China spätestens seit der Finanzkrise 2008 als größte Volkswirtschaft an den USA vorbeigezogen und dominiert zunehmend die globalen Finanzmärkte. Zeit, sich mit dem neuen Primus zu beschäftigen. Zumal es Zhao Tingyang gelingt, herrlich undogmatisch die politikwissenschaftlichen Konzepte der (meist europäisch geprägten) Neuzeit auf den Prüfstand zu stellen, Ideologien nüchtern zu sezieren und die Vorteile einer neuen Weltordnung darzulegen. Das heutige chinesische System wird an wenigen Stellen erwähnt, der Abstand zwischen Gegenwart und Tianxia wird aber zwischen den Zeilen deutlich.

Schließlich: Die „Neotianxia“ sei, so Zhao, das einzige, was die Herausforderungen globalen Maßstabs im 21. Jahrhundert vorantreiben kann. Kooperativ statt kompetetiv. Nationalstaaten und klassische regionale Machtausübung sind dazu nicht imstande. Die Lektüre ist also nicht bloß ganz nett, sondern im Kontext der aktuellen Situation wirklich hilfreich.

Empfehlung: Lesen!

Da ich mich zunehmend mit Systemfragen beschäftige – nachzulesen unter anderem im Newsletter – und mich für einen systemischen, posthumanistischen Weg engagiere, traf das Buch bei mir einen Nerv und beleuchtete einen blinden Fleck. Ich habe es verschlungen. Prädikat: Perspektivenerweiternd!

Ich würde mich freuen, wenn meine Begeisterung Sie neugierig gemacht hat und Sie das Buch in der Buchhandlung Ihres Vertrauens, bei medimops oder Buch7 (mit CO2-Ausgleich) finden und sich ebenso daran erfreuen. Oder aus der Bibliothek ausleihen, wenn Sie keinen Platz mehr im Bücherregal haben. Und dann schreiben Sie gern einen Kommentar, was Sie denken:

  • Hat Ihnen das Buch gefallen? An welchen Stellen spüren Sie eher Dissens?
  • Kann die (Neo-)Tianxia moderne Probleme lösen?