Letztes Corona-Update: Resilienz 2022+

Wer hat noch Lust auf mehr oder weniger kluge Beiträge über Corona / Covid19? Ich auch nicht. Fast ein Jahr ist es nun her, dass ich mit meinem Pandemie-Beitrag einige Gemüter erhitzt habe. Am 28. Feburar 2021 veröffentlichte ich meine Gedanken darüber, wie wohl der Corona-Sommer 2021 verlaufen könnte und schrieb unter anderem in eine Zwischenüberschrift "Querdenker töten":

https://www.kaigondlach.de/artikel/wie-wird-der-corona-sommer-2021/

Und wo stehen wir jetzt?

Inzwischen ist der Plan der Durchseuchung der Gesellschaft mit Corona (v. a. Delta und Omikron) längst Realität, auch die neue Bundesregierung setzt der kollektiven Verwirrung wenig entgegen und meine Wünsche für beherzte Maßnahmen für mehr Bildung, Gerechtigkeit und Demokratie wirken inzwischen utopisch. Sind wir hier etwa nicht bei "wünsch dir was"? Natürlich nicht.

Dazu fällt mir ein Zitat des Schweizer Schriftstellers Kurt Marti ein:

Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen?
Kurt Marti, 1921-2017

Gerade erleben wir eindrucksvoll die Antwort auf diese geniale rhetorische Frage.

Resilienz nach Corona

Die kollektive Krisenerfahrung, die die Menschheit hätte zusammenschweißen können, hat eher zu einer Vertiefung der Gräben geführt. Auch global. Denn schaut man sich den Impfstatus der Staaten bei Statista an, bildet dieser natürlich die Verteilung des globalen Bruttoinlandsprodukts ab. Einerseits konsequent, andererseits weit entfernt von den ach so humanistischen Idealen der Weltgemeinschaft. Andererseits weisen nicht immer demokratische Staaten die höchste Impfquote auf, so führen die Vereinigten Arabischen Emirate die Tabelle an, auch in den Top 10: China und Kambodscha (Quelle: NZZ).

Derweil prallen Meinungen, Gruppen und sogar Staaten aufeinander wie lange nicht mehr. Inzwischen erleben wir die Neuauflage des Kalten Kriegs, der umso heißer wird, je leidenschaftlicher einzelne Menschen oder ganze Staatsregierungen auf ihrem Ego bestehen, anstatt die Argumente der Gegenseite anzuhören. Ob es um die Herkunft des Virus oder die Blockkonfrontation im europäischen Osten geht, die so hoch gelobte Individualisierung hat uns in einen Hobbes'schen Krisenzustand geführt, in dem wieder jeder Mensch des anderen Menschen Wolf ist. Wer nicht meine Ziele unterstützt, ist ganz klar mein Feind - so scheint das Credo vieler (insb. Social Media) Aktivisten.

Leider hat sich parallel der Zustand der Demokratie weltweit verschlechtert, wie die letzte Aktualisierung der berühmten Economist-Studie zeigte; nur noch etwa 45,7 Prozent der Weltbevölkerung lebt in einer Demokratie ggü. 49,4 Prozent im Jahr 2020. Anders als einige Trendforscher und andere Propheten hat sich also leider keine sprunghafte Verbesserung von praktisch allem durch die Pandemie ergeben. Schade.

Corona im Sommer 2022+

Wagen wir also eine (hoffentlich) letzte Prognose, wie es mit der Corona-Pandemie weitergeht. Die Grundbedingungen sind wenig rosig, doch es gibt natürlich auch Hoffnung. Zunächst die Sorgen.

Wir spazieren barfuß auf dem Scherbenhaufen, vielleicht unterlassen Verantwortliche deshalb ruckhafte oder große Schritte. Das Vertrauen in Politik und Medien hat seinen Tiefpunkt erreicht, was eigentlich ein Indiz dafür ist, dass sich "die Medien" oder "die Politik" eben nicht besonders gut absprechen (konträr zur Meinung eines großen Teils der "Systemkritiker"). Wer schon während der Bundestagswahl und den Koalitionsverhandlungen insbesondere gegen den rot-grünen Part der Ampel war, wird nun wenig Verständnis für jede Form der Politik haben. Es ist ja viel einfacher, sich weiterhin auf der eigenen Meinung auszuruhen und die eigene Dagegenheit zur Schau zu tragen, gern bei den grenzwertigen Spaziergängen.

Hoffnung habe ich in folgenden Dimensionen:

  • Dank moderner Technologie, öffentlichem Interesse und großen Anstrengungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ist es sehr schnell gelungen, wirksame Impfstoffe in Rekordzeit zu entwickeln. Ich bin kein bedingungsloser Fan sämtlicher Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung der Virusausbreitung. Im Großen und Ganzen jedoch geht aktuell leider auch schnell wieder unter, wie privilegiert wir im globalen Norden sind, überhaupt Zugang zu Hygiene und Gesundheitsversorgung im Allgemeinen, zu einer breiten Auswahl von Impfstoffen im Speziellen zu haben.
  • Inzwischen ist empirisch recht gut belegt, dass die Mehrheit der Gesellschaft wenig mit Systemrevolte anfangen kann. Die offiziellen Querdenker-Kanäle sind inzwischen an sich selbst und der Realität zerbröselt, teilweise wurden sie aufgrund der klar systemfeindlichen und nicht selten rassistischen oder antisemitischen Kultur zensiert oder gar verboten. Wer jetzt auch noch den Mut hat, seinen Egotrip zu beenden und Fehler einzugestehen, sollte dafür Anerkennung erhalten. Amnestie für Querdenker!? Das Paradoxe: Inzwischen zieht es einen ordentlichen Teil der Systemopposition aus demselben Grund in die Normalität wie die demokratische Mehrheit - die Schlacht wurde verloren, einige zentrale Köpfe der Bewegung sind gefallen, also zurück zur scheinbaren Konformität.
  • Apropos Köpfe: Die Pandemie hat viele kreative und innovative Köpfe zusammengebracht. Einige davon habe ich in meinem Podcast befragt. Ob Nachhaltigkeit, Bildung oder Digitalisierung - nicht alles stand in den letzten zwei Jahren still. Vieles ging in die richtige Richtung, wenn man etwas Mut zur Lücke hat, wird man als Optimist ein Leuchten am Ende des Tunnels sehen.
  • Apropos Ende des Tunnels: Mit der Corona-Variante Omikron ist nicht zu spaßen. Nein, auch sie kann tödlich verlaufen, gestern (13.02.2021) sind 42 Menschen in Deutschland am Virus gestorben, aktuell heute wird voraussichtlich die Marke von 120.000 Corona-Toten überschritten (Quelle: RKI). Dennoch ist die Hospitalisierung und auch die Sterberate mit dem Rückgang von Delta ebenfalls gesunken. Aus Perspektive des Virus macht das sogar Sinn: möglichst viele Wirte infizieren, sie aber nicht töten, um anschließend weiterleben zu können. Das heißt für unsere Pandemie-Prognose folgendes: Die Zeichen stehen auf ein baldiges Ende der Corona-Pandemie. Juhu! Dass das nicht bedeutet, dass wir komplett durchatmen können, versteht sich von selbst. Endemie ist nicht gleich: ungefährlich.

Was ist jetzt zu tun für mehr Resilienz?

Aber was wäre dieses Zlog ohne ein paar Denkzettel für die nächsten Monate? Also los:

  • Wie ich in meinen letzten Vorträgen zum Thema "Resilienz" gebetsmühlenartig wiederholt habe, ist es nicht damit getan, eine Krise durchzustehen. Klar, als erstes gehört zur Verarbeitung einer schlimmen, traumatischen Erfahrung das Zurechtfinden in der neuen Normalität. Also: Euphorie, Party, Freedom Day! Danach geht's aber an die Aufarbeitung. Nicht zurück zum alten Normal, das ist völliger Unsinn. Es gehört zu jeder vernünftigen Krise, dass das alte Normal mit ihr stirbt. Wer versucht, daran festzuhalten oder dahin zurückzukehren, wird wahnsinning. Ich kenne das unter der Erfahrung einer PTBS. Insofern wünsche ich mir von einer mündigen Zivilgesellschaft, dass sie sich spätestens 2023 an eine umfangreiche Aufarbeitung der Krise, ihrer Ursachen und einer Neugestaltung auf Systemebene setzt.
  • Systemebene heißt nicht einfach nur "die Politik", die dank unklarer Kommunikation zu viele Flanken geboten hat, um sogar im Zentrum der Demokratie immer wieder Angriffe hinzunehmen. Die Liste ist zu lang für einen kurzen Beitrag. Systemebene heißt aber eben auch ein neues Selbstverständnis "der Wirtschaft", in dem es nicht mehr sanktioniert werden darf, wenn man sozial und/oder ökologisch wirtschaftet. Der Wandel hat begonnen, doch mit ausschließlich Selbstverpflichtungen wird er zu lange dauern. Wir müssen uns auch wagen, Kapitalismus neu zu denken und wer jetzt automatisch "Sozialist!" rufen möchte, sollte nochmal nachdenken. Das ist keineswegs gemeint, sondern eine verbesserte Neuauflage der sozialen Marktwirtschaft. Und ja, das lohnt sich auch oder insbesondere, wenn anderswo die Demokratie abnimmt.
  • Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Wie ich schon am 03.07.2021 in meinem Mini-Podcast "Kai for Future" berichtet hatte, warnte der Weltbiodiversitätsrat (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, kurz IPBES) Mitte 2020 davor, andere Viren zu unterschätzen, während die globale Aufmerksamkeit auf Sars-Cov-2 ruht. Wörtlich sagte ich dann:

Es wird geschätzt, dass 1,7 Millionen Viren mit Säugetier- oder Vogel-Wirten aktuell noch unentdeckt sind, von denen wiederum 631-827 Tausend das Potenzial haben, Menschen zu infizieren. Nochmal die Zahl: durchschnittlich 730.000 Erreger warten nur darauf, Menschen zu infizieren. Dazu gehören u.a. einige weitere Coronaviren, aber auch der alte Bekannte H5N1 - Vogelgrippe - und dessen Mutationen.
Kai Gondlach in "Kai for Future" am 3.7.2021

Auf der Website des IPBES findet man alle Daten dazu. Kurz: Wir kommen nicht umhin, die Ursachen der Pandemie gründlich aufzuarbeiten und strukturelle Faktoren zum Teil großzügig anzupassen. Wie früher beschrieben, gehören dazu teils drastische Maßnahmen, die weniger drastisch wären, wenn man früher agiert hätte. Stichwort: Zukunftsforschung.

Und dann? Aufbereitung letzte Pandemie, Vorbereitung auf die nächste

Um die Einstiegsfrage aufzugreifen: Wer hat Lust auf noch eine Pandemie?

Ich denke, niemand. Insofern bereiten Sie sich gern innerlich schon mal darauf vor, auch in den nächsten Jahren zum Teil erhebliche Veränderungen im Alltag wahrzunehmen. Die steigenden Energiepreise der letzten Wochen sind ein erstes Indiz dafür, ähnlich wird es mit einigen Lebensmitteln - vor allem weit gereisten und ökologisch wenig nachhaltigen, wie insbesondere Fleischwaren - ablaufen. Hinzu kommen immer weitere Varianten bzw. Mutationen des vorhandenen Virus. Komplexe Lieferketten werden sich umstellen, Produktion weiterhin regionaler stattfinden. Und da haben wir noch nicht über politische Ungewissheiten wie den "neuen" Block Russland-China gesprochen, der sicherlich einige Auswirkungen auf den "Westen" im Gepäck hat. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Ich bleibe dabei: Zukunft ist eine Frage der Perspektive. Wenn wir uns eine gute Zukunft wünschen, müssen wir auch etwas dafür tun.

Photo by Joshua Rawson-Harris on Unsplash


Wie wird der Corona-Sommer 2021?

Ausnahmezustand seit einem Jahr. Alle Welt hofft auf Lockerungen, Aufatmen, Impfungen, zurück zu Normal. Das System steht auf dem Prüfstand - wie geht es weiter?

Nach dem Corona-Winter ist vor dem Corona-Winter

Während ich diese Zeilen schreibe, ist noch Winter - Ende Februar 2021. Falls Sie das hier deutlich später lesen, zur Erinnerung: Klimawandel sei Dank hatten wir im Februar europaweit eine heftige Kältewelle, ausgelöst durch verirrte Polarwirbel - gefolgt von den wärmsten Februartagen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen (dazu habe ich eine Podcast-Episode aufgenommen).

Nun, da der Frühling den Fuß in der Tür hat, hoffen viele auf Lockerungen der Pandemieauflagen. Doch sie werden leider weitere Enttäuschungen hinnehmen müssen; Virologen sind sich einig, dass insbesondere die neuen, mutierten Varianten des Sars-Cov-2-Virus (vor allem B.1.1.7 und B.1.351) noch ansteckender sind als die ursprüngliche Virusform. Da wir alle im letzten Jahr viel über exponentielle Entwicklungen gelernt haben, können wir uns mit einfachen Mitteln selbst ausrechnen, was das für die Verbreitung und Ansteckungsgefahr bedeutet: Die Infektionszahlen (und damit auch die Inzidenzwerte, also Infektionen pro 100.000 Einwohner:innen) steigen noch schneller, wodurch kritische Werte überschritten werden und Einschränkungen des öffentlichen Lebens bestehen bleiben oder sogar verschärft werden. Ob dadurch auch die Sterberate steigt oder sich das Virus abschwächt, wird derzeit diskutiert. Dennoch: wir müssen aktuell davon ausgehen, dass Corona uns noch eine Weile begleiten wird.

Nun stehen wir wieder mitten in der Zwickmühle. Außer Stillstand scheint es keine Option zu geben - und das ist auch der Punkt, an dem staatliche Maßnahmen zu Recht kritisiert werden. Inzwischen liegen jedoch auch ausreichend Erkenntnisse über verschiedene nationale Strategien vor; der "schwedische Weg" ist gescheitert, komplette Verleugnung (der weißrussische oder tansanische Weg) ebenso. Dann wäre da noch die Wahlkampfvariante aus den USA, wo bislang am meisten Menschen an den Folgen der Covid-19-Erkrankung gestorben sind - ein tragisches Armutszeugnis für die mächtigste Nation der Welt. Dann wäre schließlich ein letzter Hardliner-Weg zu erwähnen, dem viele nicht so Recht trauen: China hat mit der bekannten diktatorischen Härte und harten Quarantäne-Auflagen für sämtliche Einreisende angeblich das Virus ausgerottet. Aus irgendwelchen Gründen glauben wir diesen Meldungen weniger als denen aus Ozeanien, denn auch in Neuseeland und Australien (zusammen ca. 12 Millionen Einwohner) gibt es nahezu keine Fälle mehr.

Deutschland hat sich für eine der sozialsten und gleichzeitig teuersten Varianten entschieden. Und warum? Weil wir können. Und weil die Bundestagswahlen in diesem Jahr anstehen.

Corona und Bundestagswahlen

Was haben nun die Wahlen mit der deutschen Corona-Strategie zu tun? Das ist eigentlich ganz einfach.

Welche Menschen sind durch Corona am stärksten gefährdet? Faustregel: Je älter, desto schlimmer. Genauer gibt es einen signifikanten Anstieg der schweren Krankheitsverläufe ab einem Alter von 50 Jahren. Ein Blick auf die Bevölkerungspyramide verrät, warum diese Menschen nun besonders geschützt werden: Weil sie in der Überzahl sind. 45% der Bevölkerung in Deutschland sind 50+ Jahre alt, 16% unter 18 Jahren, bleiben noch 39% für die 18- bis 49-Jährigen. Und wer wählt wie? Laut Bundeswahlleiter bewahrheitet sich auch hier eine einfache Faustregel: Je älter, desto konservativer.* So ist es die offensichtlich alternativlose Option, insbesondere die ältere Bevölkerung zu schützen.

Verstehen Sie mich nicht falsch, aus (neo-)humanistischer Perspektive finde ich es richtig, Menschenleben zu schützen - unabhängig vom Alter, Herkunft, sexueller oder kultureller Identität etc. Die Wahl der Corona-Strategie in Deutschland folgt aber leider nur bedingt humanistischen Idealen, sondern einem klaren machtpolitischen Kalkül. Politikberatungen werden im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl im September sehr genau darauf geachtet haben, welche soziodemografischen Schnitte sich mit und ohne Corona ergeben. Das Alter (und damit das statistische Risiko einer schweren Erkrankung) ist nach wie vor eine sehr einfache Linie für den Wahlkampf.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir letzten Frühling einen harten Lockdown für vier Wochen durchgeführt. Doch das war natürlich nicht vermittelbar, da die Menschen mehr Angst vor einer Diktatur haben als dem Virus. Und damit sind wir beim nächsten Abschnitt.

Querdenker töten

Das Wortspiel habe ich von Die PARTEI kopiert. Natürlich soll die Überschrift keine Handlungsempfehlung sein, ich hoffe, Sie ergänzen sie im Kopf mit dem Akkusativobjekt: "Menschen". Warum, löse ich im letzten Absatz dieses Abschnitts auf.

Verschwörungsmythen gehören zu den Menschen wie die Gute-Nacht-Geschichte. Letztere hat einen pädagogischen Zweck und wird in fast allen Kulturen praktiziert. Erstere kann unterhaltsam sein, solange sie klar als Fiktion gilt oder tatsächliche Zusammenhänge aufdeckt - wenn nicht, ist sie mitunter gefährlich. Offensichtlich hat eine ganze Generation zu viel Akte X geschaut, während sie den Geschichtsunterricht geschwänzt hat. Über Jana aus Kassel wurde schon viel gesagt und geschrieben. Kurz: Sie ist als denkwürdiges Beispiel in die Mediengeschichte eingegangen, was alles falsch laufen kann und warum wir immer noch nicht genug für die Aufarbeitung unserer Geschichte tun (falls Sie das verpasst haben).

Ich habe mir viel Mühe gegeben, die "Querdenken-Bewegung" zu verstehen, deren Ängste und persönlichen Motive. Ich habe mich in Social Media auf lange Diskussionen eingelassen, viel Zeit und noch mehr Nerven investiert. Dabei habe ich immer wieder gefragt, woher die Rage kommt und vor allem, welche Quellen zu den teilweise haarsträubenden Behauptungen herangezogen wurden. Letztlich bin ich zu einer sehr einfachen und gleichsam traurigen Erkenntnis gelangt: Die gemeinsame Schnittmenge der Querdenker ist eine bedingungslose Ablehnung wissenschaftlicher Methode oder Rationalität. Die einzigen Argumente, die ich den Diskussionen und Aufnahmen von Demonstrationen entnehmen konnte, sind individueller und emotionaler Natur. Das macht sie nicht verboten, aber man muss sie als solche kennzeichnen.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d0/The_X-Files-Poster.jpg

Und damit wären wir wieder beim Thema Schwarmdummheit (auch dazu gibt's eine Podcast-Episode). Wenn Menschen sich gehört fühlen, folgen sie oft blind dem Anführer - so wie A. Hildmann oder A. Hitler (wobei der Vergleich zum Glück gewaltig hinkt). "I want to believe", so das Motto aus der Serie Akte X. Und tatsächlich sind wir so gut darin, dass der Glaube wirklich manchmal Berge versetzt - wenn wir nur konsequent genug an etwas glauben, finden wir plötzlich überall Belege dafür. Querdenker finden vielfach Belege für die wirren Behauptungen - in Blogs, auf einigen Youtube- oder Tiktok-Kanälen, von Nachbar Schneider. Das individuelle Weltbild wird damit verdichtet und alles ergibt einen gruseligen Sinn. Leider sind sie dann oft resistent gegen eine kritische Infragestellung ihrer Annahmen; also wirklich wissenschaftliches Vorgehen. Es ist nicht immer gut, der Masse zu glauben, aber wie wahrscheinlich ist es, dass >90% der unabhängigen Forschungsinstitute der Welt und daran angegliedert Millionen erfahrener Wissenschaftler:innen sich irren und eine globale Verschwörung der Superreichen unterstützen? Und wie wahrscheinlich ist es, dass Nachbar Schneider einfach nur seiner allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck verleihen will, in Wirklichkeit aber keine Ahnung von Viren und Politik hat?

Die pandemischen Auswirkungen der Querdenken-Bewegung sind inzwischen erforscht: wie Forscher:innen des Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim (ZEW) und der Humboldt-Universität zu Berlin Anfang Februar veröffentlichten, hatten die Querdenker-Demos einen erheblichen Anstieg der Inzidenz zur Folge. Heißt im Klartext: Querdenken-Demonstrationen haben Menschen getötet. Die fahrlässige Dummheit der Demonstrierenden ist das eine, das andere die Ohnmacht der staatlichen Gewalt - so hatten einige Gerichte (Judikative) Versammlungsverbote aufgehoben, Ansagen aus den Innenministerien und der Polizei (Exekutive) führten zu unklaren Befehlsketten, sodass schließlich Tausende ungehindert und ohne hinreichenden Infektionsschutz durch die Städte laufen konnten.

"Die Forschenden schätzen, dass bis Weihnachten zwischen 16.000 und 21.000 Covid-19-Infektionen hätten verhindert werden können, wenn diese beiden großen 'Querdenken'-Kundgebungen abgesagt worden wären" (ebd.). Bei einer Sterberate von ca. 3% heißt das, dass in diesem Zeitraum 480-630 Menschen durch Corona gestorben sind, weil Querdenker auf den Straßen ihre Freiheit gefeiert und anschließend Menschen in Bussen, Bahnen, Supermärkten und zu Hause angesteckt haben. Ich hoffe, ihr hattet Spaß. Es ist ruhiger um euch geworden, vermutlich (und das wünsche ich niemandem!) haben inzwischen viele von euch Angehörige oder Bekannte durch Corona verloren. Statistisch gesehen ist heute in ungefähr jedem achten sozialen Kreis ein Mensch in Deutschland an Covid-19 gestorben**. Bevor sich das Kind nicht selbst die Finger verbrannt hat, erkennt es auch nicht die generelle Gefahr des Feuers.

Corona: Neue Konfliktlinie der Gesellschaft

Corona spaltet die Nation(en). Und teilweise sogar Familien. Ob ich für oder gegen die Corona-Politik bin, kann sogar über meine berufliche Perspektive entscheiden. Wer bei Querdenker-Demos mitlief, wurde teilweise kurz darauf fristlos entlassen; und ich würde sagen, aus gutem Grund. Dass Familienangehörige sich zerstreiten, weil der eine an die Verschwörung glaubt, die andere mit ihren recherchierten Fakten aber auf Granit beißt, ist tragisch. Was das für den Zustand unserer Diskussionskultur aussagt, ist auf gesellschaftlicher Ebene verheerend.

Denn plötzlich ist es egal, was man bei der letzten Wahl angekreuzt hat - Corona ist endlich mal wieder eine neue Konfliktlinie, wie es sonst nur Atomkraft oder Kriege geschafft haben: ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Plötzlich ergeben die altbekannten Kategorien links vs. rechts keinen Sinn mehr. Wenn Hippies, Impfgegner und Neonazis gemeinsam marschieren, lecken sich Sozialwissenschaftler:innen die Finger. Andere machen sich Sorgen, dass das, wovor die selbsternannten Aufgewachten oder Erleuchteten warnen, Wirklichkeit werden kann: eine Diktatur. Die Angst davor wiederum wird nicht selten befeuert durch fiktive (!) Romane wie der von Dirk Rossmann beschworenen Öko-Diktatur (Rezension über "Der neunte Arm des Oktopus" hier). Doch mit Ängsten kann man natürlich gut spielen und Menschen damit manipulieren; das wissen die Drahtzieher hinter Querdenken genauso gut wie Goebbels und Himmler. Besonders perfide: Sie unterstellen ihren Gegnern (der Regierung, dem Robert-Koch-Institut, dem globalen Finanzkapital und Bill Gates...) exakt ihre eigene Startegie. Das ist praktisch, denn so muss man sich keine Verschwörung überlegen. Angela Merkel und Jens Spahn seien also durch und durch böse, verbreiteten Lügen, um ... ja, um was eigentlich genau? Jedenfalls ist das alles falsch, glaubt man den Querdenkern. Mit diesem Narrativ bringen sie auf bizarre Art und Weise Menschen dazu, hinter der Bundesregierung und dem Staat an sich eine totalitäre Elite zu vermuten, welche wiederum eigentlich Drahtzieher der Querdenken-Bewegung sind. Genial und furchtbar zugleich.

Wer sich die Mühe macht und dem Gesetzgeber wirklich auf die Finger schaut, weiß, dass sowohl die Bundes- und Landesregierungen als auch die Parlamente selbst die größten Schwierigkeiten hatten mit den weitreichenden, oft sehr kurzfristig und teilweise nicht durch Abgeordnete ratizifierten Maßnahmen. Aber das ist es, was der Souverän im Krisenfall tut: er entscheidet, weil die Gefahr für seine Bürger:innen größer ist als deren Ermessens- und Handlungsspielraum. Als in den 1962 Jahren die große Sturmflut vor allem die Menschen in Hamburg unmittelbar bedrohte, hat wohl niemand Demonstrationen gegen die Flut, gegen Fake News über eine erfundene Bedrohung durch Sturm und Wassermassen bis in die erste Etage organisiert. Helmut Schmidt hat damals weitgehend durchregiert. Und das hat vielen Menschen das Leben gerettet, wenn auch nicht allen. Ich habe die Sturmflut selbst nicht miterlebt, doch ich frage mich wirklich, ob es uns heute einfach zu gut geht?

Nun kann man eine Flut besser einschätzen als ein Virus. Wir Menschen sind da etwas beschränkt, immerhin können wir Viren sinnlich nicht wahrnehmen - sie sind einfach zu klein. Bevor es so etwas wie Zivilisation gab, hat sich darüber hinaus niemand geschert, wenn Viren die Runde machten: wir saßen weniger kompakt aufeinander als heute, konnten den Viren damit weniger attraktive Fläche zum Austoben geben und ob Onkel Otto nun an einem Urvater von Sars, Malaria, Hunger oder einem Säbelzahntigerangriff starb, was für die Statistik am Ende auch egal. Deutlich war, dass diejenigen in Ottos Stamm, die sich von den Gefahrenquellen ferngehalten haben, überlebt haben. Die natürliche Auslese haben wir durch moderne Gesellschaftsverträge jedoch (zum Glück!) ausgehebelt. Viele Querdenker wissen vermutlich nichts vom Erbe der Aufklärung oder den ziemlich stabilen Institutionen der Gewaltenteilung, und sie wissen ihre Privilegien in einem reichen Land wie Deutschland nicht zu schätrzen. Sie denken lieber an kurzfristige Glückshormone denn ans große Ganze. Erstaunlich, dass wir es als sprechende Affen soweit bringen konnten.

Wie wird der Corona-Sommer 2021: Zurück zu Normal? Nie wieder.

Machen wir uns nichts vor: Die Pandemie hat uns einen Spiegel vorgehalten. Einige haben sie zu Aufopferung, Selbstquarantäne, Doppelbelastung geführt. Andere haben ihr wahres, demokratie- und wissenschaftsfeindliches Gesicht gezeigt. Und wie geht es jetzt weiter?

Viele fordern ein Zurück zu Normal. Doch das wird es nicht geben. Die Pandemie hat nicht nur die ganze Menschheit in eine kollektive Krisenerfahrung gestürzt, sondern auch das Versagen einiger Gesellschaftsbereiche offenbart. Trotz der Warnungen diverser Kommissionen und Risikoberichte waren die wenigsten Staaten hinreichend vorbereitet - wir dürfen nur hoffen, dass wir daraus lernen. Denn diese Pandemie wird nicht die letzte gewesen sein. Zwar haben hochrangige Funktionäre der Weltgesundheitsorganisation WHO angedeutet, dass der Scheitelpunkt der Pandemie bereits erreicht sein könnte, doch darauf würde ich noch nicht wetten. Bleiben wir eher beim durchschnittlich wahrscheinlichen Szenario, dass sich das Virus und seine Mutanten noch für etwa ein Jahr erfolgreich reproduzieren können (ich hoffe, ich liege falsch).

In der naheliegenden Zukunft, also im Jahr 2021 heißt das folgendes:

  • das Impfgeschehen wird zwar voranschreiten, doch halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass das Versprechen der Kanzlerin eingehalten werden kann. Eine Woche vor der Bundestagswahl soll idealerweise Herdenimmunität erreicht sein; überambitioniert, wenn Sie mich fragen.
  • die Verteilung des Impfstoffs, und das ist gute und schlechte Nachricht zugleich, muss weltweit vorangetrieben werden. Der Teil der Geschichte fehlt im Großteil der Medienberichterstattung: wir sind nicht nur, aber auch deshalb so langsam, weil die Bundesregierung zumindest ein bisschen solidarisch handelt. Insbesondere die Unterstützung von Covax, dem Bündnis des globalen Nordens für die Unterstützung des globalen Südens in der Bereitstellung der Impfstoffe, dürfte noch zu einigen Nominierungen für Friedensnobelpreise führen.
  • der Klimawandel ist nicht verschwunden - zwar gingen die CO2-Emissionen 2020 leicht zurück, jedoch sinkt dadurch natürlich nicht die CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Die Polkappen und Permafrost in Grönland oder Sibirien ziehen sich weiter zurück, dadurch wird weniger Sonnenlicht reflektiert, der Klimawandel beschleunigt sich weiterhin. Nicht zuletzt durch den Wiedereintritt der USA zum Pariser Klimaabkommen ist die globale Marschrichtung klar: es wird mehr getan werden, um Emissionen zu reduzieren und alternative, umweltfreundlichere Wege zu finden, um unseren Lebensstandard aufrecht zu erhalten und den des globalen Südens anzugleichen. Keine leichte Übung. Konkret bedeutet das für den Sommer 2021: freuen Sie sich nicht zu früh, wenn Buchungsportale und Schnäppchenangebote zu (Fern-)Reisen locken wollen. Lesen Sie genau die Stornobedingungen, denn die Reisebschränkungen können und werden sich über Nacht ändern. Nicht gerade zugunsten der Reiselust. Viele erwarten nach dem kalten Winter einen sehr warmen Sommer - Urlaub würde ich nur im eigenen Bundesland planen, wenn überhaupt. Die großen Tourismusanbieter planen derweil auf Sparflamme, erwarten kein Zurück zu Normal, sondern dauerhaft geringere Reiseaufkommen - wer den längsten Atem hat, wird in zwei bis drei Jahren noch Reisen anbieten.
  • die Innenstädte darben nach Wiederöffnung der Geschäfte. Die Staatshilfen konnten viele auch kleinere Ladeninhaber:innen bisher über Wasser halten, doch sie brauchen den Zustrom der Massen; die erhöhten Versandquoten retten höchstens eine schwarze Null. Es nützt nichts. Ich erwarte einen großen Ansturm auf alles, was in den letzten harten Lockdown-Wochen und -Monaten verboten war. Daraufhin wird die Inzidenz besonders mit den neuen Covid-Varianten nach oben schnellen und noch bevor Dr. Drosten und das RKI "Inzidenzwert über 150!" aussprechen können, ist es zu spät: die exponentielle Steigerung ist dann für ein paar weitere Wochen vorgezeichnet, wir müssen wieder schließen, auch Grenzen. Ja, die lahmarschige Bürokratie im Gesundheitswesen trägt eine Teilschuld daran - vor allem aber die Sturheit der Menschen.
  • es wird eine teilweise Belebung des Veranstaltungssektors geben. Soweit zur guten Nachricht, die schlechte folgt sogleich: Eintritt nur mit (EU-)Impfpass oder tagesaktuellem, negativem Testergebnis. Aus meiner Sicht ein fairer Deal im Sinne der Gemeinschaft, für viele eine Zumutung. Viele Event-Agenturen, Produktionsfirmen, Messen oder Festival-Veranstalter sind jedoch vorsichtig und möchten nicht das Planungschaos von letztem Jahr wiederholen (warten Sie auch noch auf Erstattungen einiger Konzerte?) - daher wird das Angebot extrem beschränkt sein, die Platzanzahl begrenzt, die Preise höher - denn die Künstler:innen, Dirigent:innen und Produktionsangestellten verlangen zu Recht denselben Lohn, der sich dann aber auf weniger zahlende Gäste aufteilen muss. Eine neue Form der solidarischen Kulturszene muss sich von unten entwickeln, das heißt: auch durch Sie. Dazu gehört auch die gezielte Unterstützung von Initiativen, die Kulturschaffenden durch die Krise helfen, aber auch neue Erlösmodelle für alle Seiten - denn das wird durch die staatlichen Hilfen leider besonders vernachlässigt.
  • freuen Sie sich auch nicht zu früh über Schulöffnungen. Ich schätze, dass es spätestens im Herbst zu einer gewaltigen Eruption im Schul-, Universitäts- und Ausbildungsbereich kommen wird. Es ist eine Schande für dieses Land, dass etwa ein Jahr nach Beginn der Pandemie noch immer keine vernünftigen Konzepte für Remote / Home Schooling vorliegen, Gesetzgeber, Schulleitungen und Lehrkräfte bekleckern sich mit allem, nur nicht mit Ruhm. Die über Jahrzehnte sträflich vernachlässigte Unter-Förderung von Lehrkräften, die Konservierung alter Werte statt "neuer" Erkenntnisse der Bildungsforschung, die kategorische Ablehnung digitalisierter Lernmethoden und -inhalte (Stichwort Medienbildung, Informatik als Pflichtfach...) könnten zu dem größten Bildungsvakuum seit dem zweiten Weltkrieg beitragen.
  • eine wesentliche Ursache des Aufkommens und der Verbreitung von Pandemien sind Bewegungsmuster und Klimarahmenbedingungen. Je mehr Kontakte zwischen den Wirten, desto besser fürs Virus. Je wärmer und feuchter, umso wohler fühlen sich Viren. Beide Bedingungen unterstützt die globalisierte und ökologische Faktoren ignorierende Gier der Menschheit. Die derzeitige Form des Kapitalismus, der Mobilität, der Energiewirtschaft hat uns geradewegs in die Pandemie geführt. Davor habe ich (und viele andere) gewarnt, doch letztlich ist business-as-usual einfacher als eine ernsthafte Reflexion oder gar die Absicht, grundlegende Dinge zu ändern.

Klingt ziemlich düster, ist es auch. Aber es lässt gerade noch ein bisschen Luft für Optimismus, denn genau jetzt ist noch Zeit, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Es ist die Zeit, gescheiterte Konzepte gnadenlos an den Pranger zu stellen und die Zeit bis zu den Bundestagswahlen zu nutzen, die Programme aller Parteien zu prüfen. Fragen, die ich mir dabei stelle:

  • Wer setzt sich für eine fundamentale Neuausrichtung des Bildungssektors ein?
  • Wer hat den besten, realistischen Plan für die Erreichung der Klimaziele?
  • Wer schaut über den Tellerrand der nächsten Legislatur und behandelt die Themen, die bis 2050 wichtig werden, und richtet darauf das Programm aus?
  • Wer denkt auch in dieser Pandemie, die uns noch ein paar Jahre beschäftigen wird, nicht nur an die Lobby, die gerade am lautesten schreit, sondern bündelt Maßnahmen, die für alle funktionieren?
  • Gibt es überhaupt eine etablierte Partei, die nicht in der traditionellen Machtallokation gefangen ist, sondern wirklich nach Werten und Zielen handelt?
  • Wagt eine Partei mehr Demokratie an den Stellen, wo sie sinnvoll ist?

Noch eine Pandemie in diesem Ausmaß können wir uns alle nicht leisten. Nutzen Sie Ihre Stimme weise.

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* das gilt vor allem für die Unionsparteien CDU und CSU. Bei der AfD knickt das Wähleralter ab 70 wieder ein - denn die können sich noch daran erinnern, was die Vorgängerpartei (NSDAP) durch ihr Programm mit ihnen oder ihren engsten Angehörigen angerichtet haben.

** Die Formel dafür lautet: 82.000.000/68.000/150. 82.000.000 Menschen leben gerundet in Deutschland, 68.000 sind (abgerundet) bis zum heutigen Tag laut Statista an Covid-19 gestorben, 150 ist die ungefähre Größe eines sozialen Umfelds, also die Anzahl der Menschen, die Sie persönlich gut kennen. Das ist an vielen Ecken sehr unsauber gerechnet, aber ich bin Sozialwissenschaftler, kein Mathematiker, Virologe oder ähnliches. Was die Modellrechnung verdeutlicht: Menschen müssen (wie kleine Kinder) erst merken, dass es wehtut, bevor sie etwas verstehen. Querdenker sind die Kinder der Nation, könnte man sagen.


#01.08 Perspektiven 2021: Rückblick und Ausblick Im Hier und Morgen

Das zurückliegende Jahr ist bereits in die Geschichte eingegangen als das "Jahr der Pandemie". Viele negative Schlagzeilen beherrschten die Medien: neben Corona gab es politische Konflikte, Hungersnöte, Kriege und die Klimakatastrophe zeigte ihre Auswirkungen auch im "globalen Norden". Kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken! In meinem Ausblick auf 2021 hebe ich auch die Errungenschaften des Jahres hervor und entwickle verschiedene Perspektiven auf das neue Jahr.

Jetzt anhören auf Spotify:

https://open.spotify.com/episode/2ap6IHr8t9OpYTcwpBB2YE?si=vTTZLQ18SGyrWJJeUnJYgQ

Anhören auf Soundcloud:

https://soundcloud.com/zukunftsforscher/008-perspektiven-2021-ruckblick-aus-ausblick

Anhören auf Itunes:

Anhören auf Deezer:

https://www.deezer.com/de/episode/268227342

Anschauen auf Youtube:

https://youtu.be/mgisahSwZ4M

(c) Netzpalaver

Interview mit Netzpalaver über New Work und agile Unternehmensführung

Im Juli habe ich mich mit Ralf Ladner, Gründer von Netzpalaver unterhalten, einem der größten Influencer in diversen Tech-Themen. Es ging natürlich nebenbei auch um die Corona-Pandemie und deren Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft. Primär haben wir uns aber über New Work und agile Unternehmensführung unterhalten. Die Kernfrage lautete: Was bleibt von den schlagartigen Management-Entscheidungen infolge der Pandemie, Lockdown und Co.? Ist das Digitalisierung und New Work, wenn konservative unternehmen ihre Mitarbeiter in Heimarbeit schicken? (Spoiler: nein)

Hier geht's zum Interview, das am 21. Juli 2020 über Zoom aufgezeichnet wurde:
https://netzpalaver.de/2020/08/10/interview-mit-zukunftsforscher-kai-gondlach-zu-new-work-und-agiler-unternehmensfuehrung/


Corona (Fehl-)Prognosen und Verantwortung

Zu Beginn der Pandemie wurden allerlei Zukunftsforscher*innen, darunter auch ich, um Einschätzungen zur Zukunft des neuartigen Coronavirus (Covid19) gebeten; wie lange dauert es, bis wir einen Impfstoff gefunden haben? Wie sieht das "neue Normal" aus? Wann wird endlich alles wieder gut? Ein gutes halbes Jahr nach den ersten Anzeichen für eine Pandemie (laut WHO offiziell seit 12. März) ist es Zeit für eine Reflexion.

Es ist nicht meine Art, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Einige "andere" und vor allem deren Aussagen in Massenmedien haben mich nun aber doch dazu bewegt, erneut Stellung zu nehmen. Nach meinem ersten Corona-Artikel am 24. März erhielt ich viele Anfragen von der Presse, unter anderem kam ein Kamerateam von ARD Brisant zu mir nach Hause und löcherte mich mit Fragen. Ich gehöre zu denjenigen, die ihre Annahmen und die Herkunft dieser Einschätzungen gern begründen - und vor allem auch deutlich machen, dass sie auch nicht alles wissen. Schließlich bin ich weder Virologe oder Immunologe noch Pharmakologe oder ein Orakel. Hinzu kommt, dass "die Medien" natürlich reißende Schlagzeilen suchen, weil sie davon ausgehen, dass ihre Leser*innen und Zuschauer*innen nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und keine Zeit oder Lust auf Hintergründe haben. Also ebbten die Anfragen ab.

Natürlich lese ich viele Interviews und Artikel meiner Kolleg*innen. Natürlich muss auch ich mir Gedanken über meine Positionierung und Wirtschaftlichkeit machen. Einige mutmaßliche Zukunftsforscher haben dabei den Bogen normativer Prognosen jedoch deutlich überspannt und bringen damit die junge Disziplin der Zukunftsforschung durch unseriöse, spekulative und unwissenschaftliche Prognosen in Verruf. Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst, die damit einhergeht, als Person des öffentlichen Lebens Aussagen über die Zukunft zu formulieren und teilweise Empfehlungen zum Umgang mit Veränderungs- und Krisensituationen zu geben. In diesem Sinne gehört es für mich zum guten Ton, gewisse Spielregeln einzuhalten, die mitunter weniger populär oder eindeutig einer Politik oder Gesinnung zuordenbar sind. Gut für die Moral, schlecht für die Einschaltquote.

Ich habe auf der Seite Mission & Wissenschaft (+ Unterseiten) beschrieben, worum es der wissenschaftlichen Zukunftsforschung geht. Dazu gehört die Einhaltung der Gütekriterien der Forschung wie Eindeutigkeit, Transparenz, Offenheit und Redlichkeit (s. "Warum Zukunftsforschung?"), welche ich bei erwähnten Covid19-Äußerungen serienweise verletzt sehe. Wir sind hier nicht bei "wünsch dir was"! In diversen Interviews sprachen Trendforscher darüber, dass (Fraktion A) Corona die Gesellschaft erwachen lassen wird, es zu einer lang ersehnten Entschleunigung kommen und das System des "Raubtierkapitalismus" auf den Prüfstand gestellt werden wird. Fraktion B sah den Untergang unserer Gesellschaft und den Tag des Jüngsten Gerichts gekommen. Hauptsache, man schafft es auf die Titelseite mitunter dubioser Medien, um Reichweite zu erlangen. Bezüglich eines Impfstoffs, der Dauer der Pandemie oder spezifischer Auswirkungen wurde dann aber ausweichend geantwortet, nachdem die subjektive Sicht möglichst verklausuliert und rhetorisch astrein dargelegt wurde. Man darf ja um Himmels Willen nicht zugeben, dass es Fragen gibt, deren Antworten wohl niemand kennt. Doch das gehört dazu! Niemand kennt die Zukunft, auch Zukunftsforscher nicht. Paradoxerweise scheint es gerade die Aufgabe der wissenschaftlichen Zukunftsforscher*innen zu sein, genau dies immer wieder zu betonen - darauf achte ich penibel in meinen Keynotes, in Interviews, Podcasts und Blogartikeln. Natürlich wird das nicht immer gedruckt oder gestreamt, es gehört jedoch zu meinem Berufsethos, wenigstens darauf hinzuweisen.

Prognosen zu Corona und "danach"

Wer hat die Corona-Pandemie kommen sehen?

Ich. Natürlich nicht ich alleine, sondern eher eine große Menge Forscher*innen, die sich begründete Gedanken über mögliche und wahrscheinliche Zukünfte machen. Dazu gehört im Übrigen auch das Robert-Koch-Institut, welches im Auftrag des Deutschen Bundestags bereits 2012 über die Risiken einer modifizierten Sars-Variante aufklärte (nachzulesen in der Drucksache 17/12051 vom 03.01.2013). Diesen Einschätzungen habe ich mich angeschlossen und folglich bei passenden Themen auch in Keynotes darauf hingewiesen; letztes Jahr war ich unter anderem im Sommer bei einem großen Pharmaunternehmen für zwei Termine zum Thema "wie leben wir in der Zukunft?" gebucht, in denen ich schwerpunktmäßig die Zukunft des Gesundheitssystems skizzieren sollte. Das habe ich getan und auch auf die Möglichkeit einer zeitnahen Pandemie hingewiesen. Ob es Zufall ist, dass eben dieses Pharmaunternehmen zu den führenden Institutionen für Coronatests und bei der Erforschung eines Impfstoffs gehört?

Wann werden wir einen Impfstoff haben?

Aus aktueller Sicht (Anfang August 2020) ist das laut führenden Virologen immer noch nicht klar. Das Virus stammt schließlich aus der Familie der Coronaviren, die, wie wir wissen, sich gern weiterentwickeln. Die Fortschritte sind global rasend schnell, immerhin ist die Wirtschaft weltweit infolge der Sars-Cov-2-Pandemie deutlich geschrumpft - anders als bei bspw. HIV bröckelt also das Fundament der globalisierten Menschheit. In Russland wird bereits ein Impfstoff getestet, doch selbst wenn es der Menschheit gelingen sollte, so rasant eine wirksame Impfung zu finden, ist immer noch fraglich, wie schnell dieser massenhaft produziert und verteilt werden kann, welche Kosten damit verbunden sind, wer sich gegen die Impfung weigert (Stichwort Impfgegner) und ob damit das Virus tatsächlich verbannt ist.

Wichtiger ist meiner Ansicht nach, dass wir den Umgang mit der Situation meistern und auch die unbequemen Aspekte diskutieren. Ich sehe an dieser Stelle viele Parallelen zur Kommunikation mit Kindern. Es nützt nichts, das Virus zu ignorieren oder zu leugnen; wer sich beim Versteckspiel die Augen zuhält, ist noch lange nicht verschwunden. Ebenso wenig hilft es uns weiter, übertrieben optimistische Prognosen zu verbreiten; auf langen Autofahrten hat es schließlich auch noch nie geholfen, die Frage der Kinder "wann wir endlich da?" mit "wir sind gleich da" zu beantworten, wenn man in Wahrheit gerade aufgrund einer Vollsperrung im Stau steht.

Kurz: Wie lange das "neue Normal" noch andauert, kann niemand mit Gewissheit sagen. Wir können und sollten uns nur bemühen, achtsam miteinander umzugehen und die für Krisen typischen Spannungen menschlich zu meistern.

Wie gehen wir mit der angespannten "Lage der Nation" um?

Wenn die Corona-Ausnahmesituation eins zutage gefördert hat, ist es die unbequeme Wahrheit, dass ein ernstzunehmender Teil der Bevölkerung(en) das Vertrauen in das System verloren hat. Demagogen in politischen Ämtern und zivilgesellschaftliche Influencer gießen zu allem Überfluss noch Öl ins Feuer. Das Virus sei eine Entwicklung des Militärs, Superreiche planen die Übernahme einer Weltregierung, die (Bundes-)Regierung wolle sich mit diktatorischen Methoden die totale Macht sichern - bis hin zu obskuren Thesen, die Machtelite würde mithilfe der UNICEF Kinder entführen und deren Blut trinken. Kaum eine Verschwörungstheorie ist zu bizarr, um viele Anhänger zu finden, die sich dann in einer irrwitzigen Melange von Reichsbürgern, Rechts- und Linksradikalen, Neo-Hippies und besorgten Rentner*innen zu oft grenzwertig legalen Demonstrationen oder Coronaparties treffen. Unglücklicherweise schaffen es weder Politik noch die vernünftige Zivilgesellschaft, diese Sorgenträger*innen ernstzunehmen, sondern kippen ihrerseits eimerweise Wasser auf die Mühlen der "Skeptiker", indem sie die Initiativen kleinreden, sich darüber lustig machen und darüber hinaus politische Agenden der AfD und Co. fehlinterpretieren.

Fakt ist: Die Situation eskaliert. Über die durchaus weitgreifenden Maßnahmen der Regierungen zur Eindämmung der Pandemie kann man streiten, auch über mehr oder weniger demokratische Aspekte der Entscheidungsfindung und Eingriffe in die Autonomie der Bürger*innen. Was bis dato in einer Demonstration mit rund 20.000 bestätigten Teilnehmer*innen am ersten Augustwochenende in Berlin gipfelte, ist im Grunde der Ausdruck von Unzufriedenheit mit unterschiedlichen Aspekten unseres gesellschaftlichen und politischen Systems. Politikverdrossenheit ist keine Neuheit, ontologische Herausforderungen einer repräsentativen Demokratie auch nicht. Dazu dann noch eine Prise Globalisierung und Digitalisierung, sodass die "zur Mündigkeit fähige" Gesellschaft sich in einem fast rechtsfreien Raum (dem Internet) austauschen kann, und wir haben den Salat. Leider tragen die Algorithmen der großen Unternehmen des Social Web (Facebook, Twitter, Snapchat und Co.) nicht gerade zu einer ausgeglichenen Diskurskultur bei; stattdessen bestärken sie sie das Zusammenrotten in inhaltlich eher homogenen Blasen. "Wer meiner Meinung ist, darf mitdiskutieren, wer dagegen ist, gehört der Verschwörung an", lautet die Logik dieser Social Bubbles. Jede Rückfrage, die das Fundament einer "Theorie" infrage stellt, wird als Einschränkung der Meinungsfreiheit deklariert. Pessimisten sehen bereits Anzeichen für den Untergang unserer Spezies herannahen und prophezeien weltweit bewaffnete Ausschreitungen, das Ende der zivilisierten Welt oder Trumps Machtergreifung auch ohne demokratische Grundlage.

Kann der Untergang der Menschheit noch gestoppt werden - und wenn ja, wie?

Einer der wichtigsten psychopathologischen Risikofaktoren für Suizidalität sind fehlende Zukunftsperspektiven (Quelle). Ähnliches beobachte ich seit ein paar Jahren in gesättigten Gesellschaften des Westens; aus diesem Grund ist mein Motto "Zukunft ist eine Frage der Perspektive". Mir war bei der Analyse der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft (Veränderungsangst, Wertevakuum und -konflikte, Anstieg psychischer Krankheiten und Burnout etc.) aufgefallen, dass es vor allem an diversen Perspektiven mangelt. Die Uhr der Globalisierung lässt sich nicht mehr zurückdrehen, wir müssen mit dem Erbe der (historisch betrachtet) schlagartigen Bevölkerungsexplosion (von 1 Mrd. auf 8 Mrd. in knapp 200 Jahren) fertig werden, müssen mit wirtschaftlichen, kulturellen, ethnischen, ethischen und demografischen Unterschieden leben und gleichzeitig die Auswirkungen des Klimawandels (darunter Artensterben, Flächenversiegelung, Anstieg des Meeresspiegels, Verdörrung, Häufung extremer Wetterereignisse etc.) moderieren.

Grundzüge einer Lösung

  1. Dazu fehlt meiner Ansicht nach erstens eine weltumspannende, inklusive und kooperative Weltpolitik, die diesen Namen auch verdient (Literaturtipp: "Alles unter dem Himmel" von Zhao Tingyang). Ein Teil dieser dringend benötigten obersten Ebene ist es, die Komplexität der Welt anzuerkennen und Abstand zu nehmen von pauschalisierenden Aussagen und politischen Lösungen, die (im Falle von Pandemiemaßnahmen) landesweite Verordnungen mit sich bringen, statt auf Faktoren wie Risikopatienten, soziale Mobilität, demografische Merkmale etc. einzugehen. Auf der anderen Seite gibt es Themen, die nur aus der Vogelperspektive rational beurteilt und behandelt werden können: kaum jemand möchte zum Klimawandel beitragen und doch sind individuelle Zugeständnisse schwer freiwillig zu erreichen, die jede*r einzelne im Alltag eher andere Prioritäten setzt als die unmittelbaren Folgen alltäglicher Handlungen für das Gesamtsystem in Zukunft.
  2. Ebenso dringend benötigen wir ein neues Verständnis bzw. neue Regeln für den Kapitalismus, der sowohl Wohlstandsunterschiede als auch Umweltfolgen der Produkte und individuellen Handelns einpreist (Literaturtipp: "Postkapitalismus" von Paul Mason). Das Grundprinzip der Marktwirtschaft bringt viele Vorteile mit sich - holistische Verantwortungsübernahme einzelner Akteure gehört nicht dazu. Währungen dienen dazu, Tauschhandel effizienter zu gestalten und Preisstabilität zu gewährleisten; sie greifen aber zu kurz, wenn es um die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Faktoren geht.
  3. Schließlich mangelt es an neohumanistischen und postmodernen Grundwerten. Allen voran stehen Toleranz und die Einsicht, dass das Primat des Egos durch Belohnungssysteme altruistischer Verhaltensweisen ausgetauscht werden muss. Applaus auf dem Balkon ist zwar nett, zahlt aber nicht die Mieten des Pflege-, Krankenhaus oder Supermarktpersonals. Vor der Moderne waren es in erster Linie die Religionen und deren Priester und Propheten, die allgemeingültige Werte des Zusammenlebens definierten; in der globalisierten, vernetzten und postmodernen Gesellschaft, die ungleich komplexer ist, helfen keine Ansätze mehr, die Ungleichheiten zementieren, Grenzen betonen und Konflikte hinnehmen. Andererseits ist auch die Deutungshoheit der Vereinten Nationen auf "universelle" Menschenrechte aus der Mode gekommen.

Fazit

Wenn es unser Ziel ist, dass unsere und andere Spezies auf diesem Planeten noch viele weitere Generationen in Frieden zusammenzuleben, sollten wir über teils radikale Anpassungen der gesetzlichen und gemeinschaftlichen Grundlagen nachdenken. Und wenn Corona zu einer Sache gut ist, dann vielleicht dazu: die Krise als Chance zu verstehen & das Momentum der Unzufriedenheit auf- und ernstzunehmen und in eine für alle Beteiligten lohnenswerte, lebenswerte Zukunft zu investieren. Wenn wir wollen, können wir die Werkzeuge unserer Zeit nutzen, um einen globalen Dialog anzustoßen und grundlegend neue Modelle zu entwickeln. Wir müssen es nur tun.

Photo by Jude Beck on Unsplash


Free Talent: Sonderfolge "Was bedeutet die COVID-19-Krise für Freelancer?"

Daniel Barke hat vier ehemalige Gäste seines Podcasts "Free Talent" zum Checkup eingeladen: Katharina Kieck, Emily Roberts, Linda Brack und mich. Wie geht es Freiberufler*innen und Selbstständigen in der Corona-Krise? Vier ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Pandemie.

Hier geht's zur Episode:
https://www.free-talent.de/portfolio/15-sonderfolge-was-bedeutet-die-covid-19-krise-fur-freelancer/